Stanton ging durch die Doppeltür in seine »Höhle«, wie seine Post-Doktoranden den Raum oft nannten. Einer von ihnen hatte eine weihnachtliche Lichterkette aufgehängt, und Stanton schaltete sie zusammen mit den Halogenlampen ein, sodass neben bläulich weißem auch rotes und grünes Licht auf die Mikroskoptische im Labor fiel. Er ließ seine Aktenmappe in seinem Büro achtlos auf den Boden fallen, streifte sich Handschuhe und einen Mundschutz über und ging in den hinteren Teil des Labors. Wochenlang hatte sein Team an einer Testreihe gearbeitet, und an diesem Morgen würden sie die ersten Ergebnisse auswerten können. Stanton konnte es kaum erwarten.
Der Raum für die Labortiere war fast so lang wie ein Basketballfeld und nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattet: computergesteuerte Bestandslager, Datenspeicher mit Touchscreens, elektronische Vivisektions- und Autopsiestationen. Stanton ging zum ersten der zwölf an der Südseite aufgestellten Käfige und spähte hinein. Zwei Tiere befanden sich darin: eine sechzig Zentimeter lange schwarz und orangerot geringelte Korallenschlange und eine kleine graue Maus. Auf den ersten Blick wirkte die Szene vollkommen normal – eine Schlange, die auf den richtigen Moment wartete, um vorzuschnellen und ihre Beute zu packen. Doch in Wirklichkeit spielte sich in diesem Käfig etwas ganz und gar Unnatürliches ab.
Die Maus stupste mit der Nase lässig den Kopf der Schlange an und hörte selbst dann nicht auf, als die Schlange warnend zischte. Und sie versuchte auch nicht, in eine Ecke des Käfigs zu fliehen. Sie fürchtete sich vor der Schlange ebenso wenig, wie sie sich vor einer anderen Maus gefürchtet hätte. Als Stanton dieses Verhalten zum ersten Mal beobachtet hatte, waren er und sein Team in lauten Jubel ausgebrochen. Mithilfe von Gentechnik hatten sie bestimmte Eiweißmoleküle, sogenannte Prionen, von der Membran der Hirnzellen der Maus entfernt, wodurch die natürliche Ordnung im Mäusehirn zerstört und die angeborene Angst vor Schlangen ausgelöscht worden war. Es war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Entschlüsselung der Funktion der tödlichen Eiweiße, eine Arbeit, die Stanton zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte.
Prionen kommen in jedem tierischen Gehirn vor, auch in dem des Menschen, doch auch nach jahrzehntelanger Forschung wusste weder Stanton noch sonst irgendein Wissenschaftler, welchen Zweck sie eigentlich erfüllten. Einige von Stantons Kollegen vertraten die Ansicht, dass Prionen-Eiweiße etwas mit der Gedächtnisleistung zu tun hatten oder eine wichtige Rolle bei der Bildung des Knochenmarks spielten. Aber genau wusste das niemand.
Meistens waren die Prionen gutartig und saßen an den Neuronenzellen im Gehirn. In seltenen Fällen jedoch kam es vor, dass sich diese Eiweiße krankhaft veränderten und zu wuchern begannen. Bei Prionenkrankheiten wie Alzheimer oder Parkinson wurde gesundes Gewebe zerstört und durch Ablagerungen, sogenannte Plaques, ersetzt, wodurch die normalen Hirnfunktionen ausgeschaltet wurden. Doch während Alzheimer und Parkinson genetisch bedingte Krankheiten waren, gab es andere Formen von Prionenkrankheiten, die durch infiziertes Fleisch übertragen wurden. Das war das eigentlich Erschreckende. Mitte der 1980er-Jahre gelangten in England mutierte Prionen von kranken Kühen durch verseuchtes Fleisch in den Handel, und die ganze Welt sah sich plötzlich mit dem Phänomen einer Prioneninfektion konfrontiert. Innerhalb von drei Jahrzehnten fielen in Europa zweihunderttausend Rinder dem sogenannten Rinderwahnsinn zum Opfer. Dann griff die Krankheit auch auf den Menschen über. Die ersten Patienten konnten ihre Bewegungen nicht mehr koordinieren und zitterten unkontrolliert, sie verloren das Gedächtnis und die Fähigkeit, Freunde und Angehörige zu erkennen. Wenig später kam es zum Hirntod.
Stanton war schon früh in seiner Laufbahn ein weltweit anerkannter Experte für Rinderwahnsinn geworden, daher war er, als das Seuchenzentrum in den USA das Nationale Zentrum für Prionenforschung ins Leben rief, die erste Wahl für den Posten des Direktors gewesen. Es war ihm als einmalige Chance erschienen, und Stanton war dem Ruf nach Kalifornien voller Begeisterung gefolgt. Es war das erste Zentrum zur Erforschung von Prionen und Prionenkrankheiten in den USA. Unter Stantons Leitung sollten hier die rätselhaftesten Krankheitserreger der Welt diagnostiziert, erforscht und schließlich bekämpft werden.
Doch so weit kam es nicht. Die Fleischindustrie startete eine erfolgreiche Kampagne, mit der deutlich gemacht werden sollte, dass sich in den USA nur ein einziger Mensch nachweislich mit Rinderwahnsinn infiziert hatte. Die Zuschüsse für Stantons Labor wurden gekürzt, und als in England keine weiteren Neuerkrankungen bekannt wurden, ließ das Interesse der Öffentlichkeit an dem Thema rasch nach. Das Budget für das Forschungszentrum war zusammengestrichen worden, und Stanton sah sich gezwungen, einige Mitarbeiter zu entlassen. Das Schlimmste aber war, dass es trotz jahrelanger Forschungsarbeit immer noch kein Heilmittel gab. Unzählige Wirkstoffe waren getestet worden, aber die Hoffnung auf eine wirksame Therapie hatte sich jedes Mal zerschlagen. Doch Stanton war immer schon ebenso dickköpfig wie optimistisch gewesen. Er glaubte immer noch fest daran, dass das nächste Experiment möglicherweise die Antwort lieferte, die er sich erhoffte.
Als er vor den nächsten Käfig trat, bot sich ihm der gleiche Anblick: eine Schlange, die ihre Beute belauerte, und eine kleine Maus, die sich davon nicht im Geringsten beeindrucken ließ. Stanton und sein Team wollten mit diesem Experiment erforschen, ob Prionen eine Rolle bei der Unterdrückung »angeborener Instinkte« einschließlich der Angst spielten. Eine Maus musste nicht erst lernen, sich vor raschelndem Gras zu fürchten – es war in ihren Genen programmiert, dass dieses Geräusch Gefahr bedeutete, weil es das Anpirschen eines Feindes signalisierte. Doch nachdem ihre Prionen in einem früheren Experiment genetisch ausgeschaltet worden waren, verhielten sich die Mäuse aggressiv und irrational. Stanton und sein Team hatten daraufhin in weiteren Versuchen gezielt den Zusammenhang zwischen der Eliminierung von Prionen und den angeborenen Ängsten der Tiere untersucht.
Stantons Handy vibrierte in der Tasche seines Laborkittels. »Hallo?«
»Spreche ich mit Dr. Stanton?«, fragte eine unbekannte Frauenstimme. Das konnte nur eine Ärztin oder eine Krankenschwester sein – jeder andere hätte sich dafür entschuldigt, dass er vor acht Uhr morgens anrief.
»Ja. Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Name ist Michaela Thane. Ich bin Assistenzärztin am East L.A. Presbyterian Hospital. Das Seuchenzentrum hat mir Ihre Nummer gegeben. Es geht um einen unserer Patienten. Es besteht der Verdacht, dass eine Prionenkrankheit vorliegt.«
Stanton lächelte, schob seine Brille zurecht und sagte: »Okay«, während er vor den nächsten Käfig trat. Eine Maus scharrte mit den Pfötchen am Schwanz der Schlange, die angesichts dieser Umkehrung der natürlichen Ordnung ganz verdattert schien.
»Okay? Ist das alles?«, fragte Thane.
»Schicken Sie mir die Proben ins Labor, mein Team wird sie sich ansehen«, erwiderte Stanton. »Ein gewisser Dr. Davies wird Sie dann wegen der Ergebnisse anrufen.«
»Und wann wird das sein? In einer Woche? Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Doktor. Manchmal rede ich zu schnell für meine Gesprächspartner. Wir glauben, dass der Mann an einer Prionenkrankheit leidet.«
»Ja, das habe ich schon verstanden«, sagte Stanton. »Was ist mit den Gentests? Schon irgendwelche Ergebnisse?«