Chel ließ sich auf eine metallene Bank fallen. Sie war tropfnass vom Tau oder vom Wasser der Sprinkleranlage, und Chel spürte, wie das Wasser durch ihre Hose bis auf die Haut drang, aber es war ihr egal. »Ich verstehe nicht«, stammelte sie. »Ich habe Sie belogen, und trotzdem vertrauen Sie mir?«
»Nein, tue ich nicht«, erwiderte er. »Aber die Einwanderungs- und Zollbehörde hat ein Expertenteam hinzugezogen, und die haben gemeint, wenn irgendjemand schnell herausfinden könnte, woher das Buch stammt, dann Sie.«
***
Nicht einmal eine Stunde später fuhr Chel auf der 405 in Richtung Culver City. Sie hatte nicht die geringste Lust, dorthin zu fahren, wohin sie jetzt unterwegs war, aber sie hatte keine Wahl. Die Behörden sahen vorerst von einer Strafverfolgung ab, und das bedeutendste Zeugnis der Maya-Kultur würde in ihrem Labor bleiben. Sie hatte immer noch Bedenken, Victor Granning in die Forschungsarbeiten mit einzubeziehen, doch jetzt galt es ihre persönlichen Differenzen hintanzustellen. Wichtig war nur, dass sie den Ärzten auf jede erdenkliche Weise behilflich war.
Das Museum of Jurassic Technology am Venice Boulevard gehörte zu den denkwürdigsten Einrichtungen von Los Angeles – vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Chel war bisher nur ein einziges Mal dort gewesen. Sie hatte sich zwar erst einmal an die labyrinthische Anlage und an die dunklen Räume gewöhnen müssen, aber dann hatte sie sich entspannt und den Zauber auf sich wirken lassen. Zu der Ausstellung gehörten unter anderem winzig kleine Figuren, die in ein Nadelöhr passten, eine Galerie der Hunde, die in den 1950er-Jahren von den Russen in den Weltraum geschossen worden waren, oder eine Sammlung von Fadenspielen.
Die Ladenfront des unscheinbaren graubraunen Gebäudes neben dem In-N-Out-Burger war klein, doch das täuschte. Chel fand direkt davor einen Parkplatz. Das eine Mal war sie mit Patrick hier gewesen. Er hatte sich unbedingt eine Ausstellung von Briefen an das Mount Wilson Observatorium ansehen wollen, die von der Existenz außerirdischen Lebens berichteten. Diese Briefe, hatte er gesagt, erinnerten ihn daran, dass man den Himmel nicht nur durch ein Teleskop, sondern auch auf andere Art und Weise betrachten könne. Sie hatten sie in dem abgedunkelten Raum zusammen gelesen, Patricks Stimme ganz nah an ihrem Ohr, und es war ein Brief dabei gewesen, der Chel ganz besonders berührt hatte. Sie konnte sich bis heute an die Worte der Frau erinnern, die von ihren Erfahrungen in einem anderen Universum erzählte: Ich habe alle möglichen Monde und Sterne und Öffnungen gesehen …
Chel drückte auf den Klingelknopf neben der Tür über einem Schild mit der Aufschrift BITTE NUR EIN MAL KLINGELN. Die Tür ging auf, und ein weißhaariger Mann um die sechzig in einer schwarzen Strickjacke und in einer zerknitterten Khakihose stand vor ihr. Chel hatte Andrew Fisher, den exzentrischen Leiter des Museums, bei ihrem ersten Besuch hier kennengelernt. Er trug eine Schutzmaske aus Plastik, doch die verbarg nicht den wachen, intelligenten Ausdruck in seinen Augen.
»Willkommen zurück, Dr. Manu.«
Er konnte sich noch an sie erinnern?
»Vielen Dank. Ich möchte zu Dr. Granning. Ist er da?«
»Ja, kommen Sie doch herein.« Fisher trat zur Seite. »Ich habe mich mit dem Gedächtnistraining nach Ebbinghaus befasst, was sich als sehr hilfreich erwiesen hat. Wollen mal sehen. Sie arbeiten im Getty, Sie sind ernster, als gut für Sie ist, und … Sie rauchen zu viel.«
»Hat Victor Ihnen das erzählt?«
Er nickte. »Er hat mir auch erzählt, dass Sie die klügste Frau sind, die er kennt.«
»Er kennt nicht viele Frauen.«
Fishers Augenwinkel legten sich in Fältchen. »Er ist hinten und arbeitet an seiner Ausstellung. Faszinierendes Thema.«
Der kleine seltsame Eingangsbereich des Museums roch nach Terpentin und wurde von dunkelroten und schwarzen Glühbirnen erhellt, sodass man nach dem grellen Sonnenlicht draußen im ersten Moment orientierungslos war. An den Wänden standen Bücherregale voller Werke mit unergründlichen Titeln, darunter Sonnabends Obliscence, das Journal of Anomaltes des Magiers Ricky Jay und das Renaissancewerk Hypnerotomachia Poliphili. Im Museum wurden die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verwischt. Herauszufinden, welche Exponate real waren, machte einen Teil des Vergnügens aus. Dennoch weckte dieser Ort, der Verwirrung stiftete und der Logik trotzte, zwiespältige Gefühle in Chel. Ganz abgesehen davon, dass sie die geplante Ausstellung ihres alten Mentors für fragwürdig hielt.
Fisher führte sie durch ein Labyrinth von Gängen, die beschallt wurden mit einer durch Lautsprecher verzerrten Kakophonie von Tierlauten und Menschenstimmen. Im Vorbeigehen sah sich Chel die kuriosen Ausstellungsstücke an. Erhöhte Glaskästen mit einem Diorama, das die Lebensweise einer Stinkameise zeigte. Eine winzige Miniatur von Papst Johannes Paul II. in einem Nadelöhr unter einem riesigen Vergrößerungsglas.
Sie bogen um eine Ecke und kamen in einen kleinen Raum, in dem an der Decke ein Glockenrad hing, das sich drehte und dabei ein unheimliches Geräusch erzeugte. In der Mitte des Zimmers stand ein gläserner Schaukasten mit Arbeiten eines deutschen Gelehrten des 17. Jahrhunderts namens Athanasius Kircher. Auf den Schwarz-Weiß-Zeichnungen waren unter anderem eine Sonnenblume mit einem Korken in der Mitte zu sehen, aber auch die Chinesische Mauer oder der Turm von Babel.
Fisher zeigte auf ein Porträt von Kircher. »Er war der letzte große Universalgelehrte. Er hat ägyptische Hieroglyphen entschlüsselt. Er hat einen Vorläufer des Megafons erfunden. Er hat Würmer im Blut von Pestopfern entdeckt.« Fisher tippte mit dem Finger an seine Schutzmaske. »Und haben Sie gewusst, dass er den Leuten empfohlen hat, eine Maske zu tragen, um sich vor Krankheiten zu schützen?« Er schüttelte den Kopf. »Heutzutage geht es nur noch um Spezialisierung, jeder sucht sich eine Nische, und die Nischen werden immer kleiner und kleiner, keiner schaut mehr über die Grenzen seines eigenen winzigen Teilbereichs des intellektuellen Spektrums. Eine Schande ist das. Wie kann sich wahres Genie entwickeln, wenn unserer Geisteskraft kein Raum zum Atmen mehr bleibt?«
»Diese Frage kann wohl nur ein Genie beantworten, Mr Fisher«, erwiderte Chel.
Er lächelte und führte sie durch weitere dunkle Gänge. Schließlich gelangten sie in den hinteren Teil des Museums, eine gut beleuchtete Werkstatt mit Projekten in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung. Fisher öffnete eine schmale Tür, die in das hinterste Zimmer des Gebäudes führte.
»Sie sind sehr gefragt heute, Victor«, sagte er, als er eintrat.
Chel folgte ihm. Victor war nicht allein. Ein zweiter, hoch gewachsener Weißer stand neben ihm in dem viereckigen Raum voller Werkzeug, Glasscheiben, halb zusammengebauten Regalen und hölzernen Podesten für Exponate.
»Na so was!« Victor ging um das Durcheinander auf dem Fußboden herum. »Wenn das nicht meine liebste indígena ist! Von ihrer Mutter einmal abgesehen, versteht sich.«
Chel betrachtete ihren Mentor, als dieser auf sie zuging. Victor war ein äußerst attraktiver Mann gewesen, und seine blauen Augen hinter der Schutzbrille hatten in fünfundsiebzig Jahren nichts von ihrer Strahlkraft verloren. Er trug ein kurzärmeliges rotes, bis obenhin zugeknöpftes Polohemd, das er in seine Khakihose gestopft hatte – seine Uniform seit seiner Zeit an der UCLA. Sein silbergrauer Bart war sauber gestutzt.
»Hi«, sagte Chel.
»Danke, Andrew.« Victor sah den Leiter des Museums an, der sich ohne ein weiteres Wort zurückzog und die Tür hinter sich schloss.
Als Victor sich wieder seiner Besucherin zuwandte, konnte sie einen Ausdruck von Ergriffenheit in seinen Augen sehen. Auch Chel war tief bewegt. Daran würde sich nie etwas ändern.
»Chel, ich möchte dir Mr Colton Shetter vorstellen. Colton, das ist Dr. Chel Manu, eine der weltweit führenden Expertinnen auf dem Gebiet der antiken Maya-Schrift. Alles, was sie weiß, hat sie, wenn ich das so sagen darf, von mir gelernt.«