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Shetter hatte schulterlange braune Haare und war unrasiert. Sein Bart war mehrere Tage alt und ging bis zum unteren Rand seines Augenschutzes hinauf. Aber er trug ein gestärktes weißes Hemd mit Krawatte, eine schwarze Jeans und glänzende Stiefel. Alles in allem ergab das eine merkwürdig attraktive Kombination.

»Freut mich«, sagte Chel.

»Was ist Ihr Spezialgebiet, Dr. Manu?«

Shetter hatte eine tiefe Stimme mit einem leichten Südstaatenakzent. Chel tippte auf Florida.

»Epigrafik. Verstehen Sie etwas davon?«

»Sagen wir, ich beschäftige mich hobbymäßig ein bisschen damit.«

»Haben Sie und Victor sich so kennengelernt?«, fragte sie.

»Ich habe zehn Jahre in Petén gearbeitet«, erwiderte er.

»Als was?«

Er warf Victor einen flüchtigen Blick zu. »Ich war Ausbilder. Bei der Armee.«

So etwas hörte keine indígena gern. Die Anziehungskraft, die er gerade noch auf sie ausgeübt hatte, war verflogen. »Und in was haben Sie die Armee ausgebildet?«, fragte sie schroff.

»Hauptsächlich in der Terrorismusbekämpfung und im Häuserkampf.«

»Sind Sie von der CIA?«

»Nein, Ma’am, nichts dergleichen. Army Rangers. Wir haben den Guatemalteken gezeigt, wie sie ihre militärischen Operationen modernisieren können.«

Jede Unterstützung, die die guatemaltekische Armee von der US-Regierung bekam, war für Chel eine zu viel. In den 1950er-Jahren hatte die CIA einen Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung des Landes organisiert und dann eine Marionettenregierung eingesetzt. Viele indígenas gaben den amerikanischen Agenten die Schuld am Bürgerkrieg, der auch Chels Vater das Leben gekostet hatte.

»Colton ist ein großer Bewunderer der indígenas, Chel.«

»In meiner Freizeit war ich oft in Chajul und Nebaj«, sagte Shetter. »Die Leute da sind ganz erstaunlich. Sie haben mich zu den Ruinen in Tikal mitgenommen, und dort habe ich Victor kennengelernt.«

»Aber jetzt leben Sie in Los Angeles?«

»Mehr oder weniger. Ich habe ein hübsches kleines Haus oben in den Verdugo Mountains.«

Chel war ein paar Mal zum Wandern dort gewesen, hatte die Gegend aber als unberührte Wildnis in Erinnerung. »Da oben wohnen Leute?«, fragte sie ungläubig.

»Ja, ein paar glückliche wie ich«, antwortete Shetter. »Die Gegend erinnert mich übrigens an Ihr Hochland. Wo wir gerade davon sprechen – ich glaube, es wird Zeit für mich.« Er wandte sich zu Victor hin und zeigte auf dessen Augenschutz. »Bitte nicht abnehmen, okay?«

»Danke, dass du vorbeigekommen bist, Colton.«

Als er gegangen und sie mit Victor allein war, fragte sie: »Was wollte er hier?«

Victor zuckte mit den Schultern. »Oh, Colton hat eine Menge Erfahrung im Umgang mit gefährlichen Situationen. Er will sich nur davon überzeugen, dass seine Freunde sich in diesen gefährlichen Zeiten richtig schützen.«

»Er hat recht. Die Sache ist wirklich ernst.«

Chel sah ihn prüfend an. Aber sie konnte kein Anzeichen von Anspannung oder Schmerz entdecken.

»Ja, ich weiß«, erwiderte Victor. »Und, was sagt Patrick dazu?«

»Wir haben uns getrennt.«

»Schade. Ich habe ihn gemocht. Das heißt wohl, dass ich so bald nicht mehr auf Patenkinder hoffen darf,

oder?«

Seine alte Zuneigung tat ihr gut, trotz allem, was sie durchgemacht hatten. »Du solltest dein nächstes Buch über die Tugend des eingleisigen Denkens schreiben«, bemerkte sie trocken.

Er lächelte. »Schon gut.« Er bedeutete ihr, ihm zu folgen. »Ich bin froh, dass du da bist. Dann kannst du dir endlich mein Projekt ansehen.«

Sie folgte ihm in eine dunkle Galerie. Noch war die Ausstellung nicht vollständig aufgebaut, aber ein Schaukasten an der hinteren Wand war beleuchtet, und Chel trat zögernd näher.

Hinter dem Glas standen vier jeweils etwa sechzig Zentimeter hohe menschliche Figuren, und jede war, entsprechend der Schöpfungsgeschichte der Maya, aus einem anderen Material gefertigt: die erste aus Hühnerknochen, die zweite aus Erde, die dritte aus Holz und die letzte aus Maiskörnern. Dem Schöpfungsmythos der Maya zufolge hatten die Götter drei Mal versucht, den Menschen zu erschaffen. Die ersten Menschen schufen sie aus Tieren, doch die konnten nicht sprechen. Die zweiten Menschen formten sie aus Schlamm, aber die konnten nicht gehen, und die dritten Menschen stellten sie aus Holz her, doch die beteten nicht zu ihren Göttern und wussten nichts über die Bedeutung eines Kalenders. Erst als sie die vierten Menschen aus Mais erschufen, waren die Götter endlich zufrieden. Die vierte Welt nahm ihren Anfang.

Als sie den Glaskasten jetzt genauer betrachtete, bemerkte Chel etwas. Interessant und in ihren Augen ermutigend war das, was Victor nicht dargestellt hatte: die fünften Menschen.

»Und«, fragte ihr Mentor, »was verschafft mir das unerwartete Vergnügen deines Besuchs?«

***

Chel hatte den Eindruck, als würde Victor Grannings Leben die Kultur widerspiegeln, der er seine berufliche Laufbahn gewidmet hatte: Aufstieg, Blüte, Untergang. Noch während seines Graduiertenstudiums in Harvard hatte er mit erstaunlichen Forschungsergebnissen bezüglich der Syntax und der Grammatik der antiken Maya-Schrift von sich reden gemacht. Seine Veröffentlichungen fanden große Beachtung. Der endgültige Durchbruch gelang ihm, als die New York Times ihn als den weltweit renommiertesten Maya-Forscher pries. Nachdem er die Eliteuniversitäten im Osten der USA erobert hatte, machte Victor sich auf den Weg nach Westen, wo er an der UCLA den Lehrstuhl für den Bereich Maya-Studien übernahm. Viele junge Forscher auf diesem Gebiet waren von Victor ganz entscheidend gefördert worden.

So auch Chel. Als sie ihr Studium aufnahm, wurde Victor ihr Tutor. Schon im ersten Studienjahr konnte sie einen Text schneller dechiffrieren als irgendjemand sonst an der Fakultät. Victor gab sein Wissen über die antike Bilderschrift der Maya an sie weiter. Bald war sie mehr als nur einer von seinen Schützlingen. Gemeinsam mit ihrer Mutter verbrachte sie die amerikanischen Feiertage oft mit Victor und seiner Frau Rose in deren schindelverkleidetem Haus in Cheviot Hills. Es war Victor gewesen, den Chel als Ersten angerufen hatte, als sie nach dem Studium ihre Probezeit an der Universität bestanden und als sie ihre Stelle im Getty Museum antrat. In den fünfzehn Jahren, die sie sich kannten, war Victor für sie immer wieder eine Quelle der Ermutigung, der Erheiterung und neuerdings auch des Kummers gewesen.

Sein persönlicher Untergang begann 2008, als bei Rose Magenkrebs festgestellt wurde. Victor wich nicht mehr von ihrer Seite. Er konnte sich ein Leben ohne Rose nicht vorstellen. Gleichzeitig begann er nach Antworten zu suchen. Er, der nie besonders religiös gewesen war, wurde geradezu fanatisch in seinem Glauben: Er ging jeden Tag in die Synagoge, hielt die Regeln des Sabbat ein und befolgte die Reinheits- und Speisevorschriften, und er trug eine Kippah. Doch als Rose ein Jahr später starb, wandte sich Victor von seinem Glauben ab. Was sollte das für ein Gott sein, der so viel Leid zuließ? Einen solchen Gott konnte es nicht geben. Falls eine höhere Macht existierte, so dachte er, musste man sie woanders suchen.

Irgendwann in den neun Monaten nach Roses Tod sprach Victor zum ersten Mal über den 21. Dezember 2012 und begann Theorien über dieses scheinbar so bedeutsame Datum zu entwickeln. Seine Studenten tuschelten über beiläufige Bemerkungen, die er im Unterricht über die Bedeutung des Langzeitzyklus und dessen Ende fallen ließ. Am Anfang hörten sie noch ganz fasziniert zu, doch ihre Begeisterung schwand allmählich, als Victor auf fragwürdige Quellen zurückgriff, die unhaltbare Behauptungen über die religiösen Anschauungen der Maya aufstellten. Die Vorlesungen in Linguistik wurden ausgefüllt mit Vorträgen über das Ende des 13. Zyklus und mit Spekulationen darüber, dass ein neues Zeitalter für die Menschheit anbrechen würde, das mit der Rückkehr zu einem einfacheren, asketischeren Leben verbunden war. Etwa um diese Zeit sprachen einige von Victors Studenten Chel auf die exzentrischen Verirrungen ihres Professors an. Doch sie erkannte damals nicht, wie weit er schon vom Weg abgekommen war.