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Endlich blickte er zu ihr auf. »Das kannst du, Chel.«

***

Später am Nachmittag standen Chel und Victor in Chels Labor im Getty Museum nebeneinander am Labortisch. Fasziniert betrachtete Victor die Darstellungen der Götter, die neuen Glyphen, die er nie zuvor gesehen hatte, die alten Symbole in neuen Kombinationen und in ungewöhnlicher Häufung. Etwas in Chel hatte sich vom ersten Moment an gewünscht, ihm das Buch zu zeigen, und als sie es jetzt noch einmal mit seinen Augen sah, empfand sie eine fiebrige Freude.

Victor hatte sofort erfasst, wo die Schwierigkeit des Textes lag: in dem Vater-Sohn-Glyphenpaar, das Chel und Rolando vergeblich zu entschlüsseln versucht hatten.

»In dieser Verbindung kenne ich es auch nicht«, sagte Victor. »Und dass es so oft sowohl als Subjekt wie auch als Objekt gebraucht wird, ist bisher einmalig.«

Gemeinsam studierten sie den Absatz, in dem das Glyphenpaar zum ersten Mal auftrat:

Der Vater und sein Sohn ist nicht adlig von Geburt, deshalb gibt es vieles, das dem Vater und seinem Sohn verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das der Vater und sein Sohn nicht hört von den Worten, die die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden.

»Es wird öfter als Subjekt gebraucht«, sagte Victor. »Ich denke, wir müssen uns auf Substantive konzentrieren, die immer wieder verwendet werden.«

»Das sehe ich auch so«, pflichtete Chel ihm bei. »Deshalb habe ich mir die anderen Kodizes vorgenommen und auf die am häufigsten verwendeten Subjekte untersucht. Es gibt sechs davon: Mais, Wasser, Unterwelt, Götter, Zeit und König

Victor nickte. »Und die einzigen, die hier Sinn machen, sind entweder Götter oder König

»Auf den ersten Seiten finden sich etwa ein Dutzend Hinweise auf eine Trockenperiode und auf die Adligen, die darauf warten, dass die Götter ihnen Wasser bringen.«

Victor dachte kurz nach. »Götter würde keinen Sinn machen. Nicht in diesem Zusammenhang, wo Vater und Sohn darauf warten, dass die Götter Regen schicken. Nicht die Götter warten darauf, dass die Götter Regen schicken, sondern die Menschen.«

»Ich habe es mit König versucht, aber das ergibt auch keinen Sinn. Vater und männliches Kind. Chit unen. Könnte das ein Hinweis auf eine Herrscherfamilie sein? Vielleicht wird Vater bildlich verwendet für König, und er hat einen Sohn, der sein Nachfolger werden wird.«

Victor rieb sich nachdenklich das Kinn. »Es gibt Zweierpaare von Ehemann und Ehefrau, die auf einen Herrscher und seine Königin verweisen.«

Chel tauschte im Geist die Symbole aus. »Aber wenn wir davon ausgehen, dass das Vater-Sohn-Glyphenpaar auf eine Herrscherfamilie verweist, dann würde der Satz heißen: Der König und sein Sohn sind nicht adlig von Geburt. Das ergibt doch auch keinen Sinn.«

Plötzlich riss Victor die Augen auf. »In der Maya-Syntax geht es um den Kontext, richtig?«

»Ja, klar …«

»Jedes Subjekt kommt in Bezug auf ein Objekt vor. Jedes Datum in Bezug auf eine Gottheit, jeder König in Bezug auf sein Reich. Wir sprechen immer von König K’awiil von Tikal, nicht einfach nur von König K’awiil. Wir sprechen von einem Ballspieler und seinem Ball als einer Einheit. Von einem Menschen und seinem Krafttier. Das eine Wort existiert nicht ohne das andere. Sie bedeuten ein und dasselbe.«

Chel nickte. »Eine Idee, nicht zwei.«

Victor begann auf und ab zu gehen. »Genau. Wenn es sich mit diesen Glyphen nun genauso verhält? Wenn der Schreiber sich nicht auf einen Vater und dessen Sohn bezieht, sondern nur auf einen einzigen Mann, der die Eigenschaften von beiden hat?«

Chel begann zu erahnen, worauf er hinauswollte. »Du meinst, der Schreiber spricht von sich selbst als von jemandem, der den Geist seines Vaters in sich trägt?«

»Überleg doch mal. Wir sagen doch auch: Sie ist ganz die Mutter. Oder, in deinem Fall, wohl eher ganz der Vater. Der Schreiber meint sich selbst.«

»Dann bedeutet das ja ich«, staunte sie.

»Ich habe das Glyphenpaar zwar noch nie in dieser Verwendung gesehen«, fuhr Victor fort, »aber ich kenne ähnliche grammatikalische Konstruktionen, die verwendet wurden, um die Verbindung eines Adligen zu einem Gott hervorzuheben.«

»Und in diesem Fall wird sie für die Verbindung mit einem Elternteil verwendet.«

»Ich bin nicht adlig von Geburt«, las Victor, »und deshalb gibt es vieles, das mir verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das ich nicht höre von den Worten, die die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden.«

Chel hatte das Gefühl, als ob sie schwebte. Alle bekannten Kodizes waren in der dritten Person verfasst, von einem Erzähler, der Distanz zu der Geschichte wahrte, die er schilderte.

Aber das hier war etwas völlig anderes.

Eine Erzählung in der Ich-Form war im Schrifttum der Maya etwas noch nie Dagewesenes und brachte möglicherweise ganz neue Erkenntnisse. Und es könnte eine tausendjährige Kluft überbrücken und eine echte innere Verbindung schaffen zwischen Chels Volk und dem Bewusstsein seiner Vorfahren.

»So«, sagte Victor und zog einen Stift aus der Tasche, als wäre es eine Waffe, »ich denke, wir sollten uns an die Arbeit machen und herausfinden, ob das Ding da den ganzen Ärger wert ist, den es verursacht hat.«

14

In einer halben Phase des großen Sterns ist kein Regen gefallen, der uns Nahrung gegeben hätte. Die Felder von Kanuataba sind abgeerntet und erniedrigt, und das Wild und die Vögel und die Jaguar-Wächter des Landes sind verjagt worden. Die Hügel sind öde und kahl, Insekten schwärmen, und keine fallenden Blätter nähren noch den Boden. Die Tiere und Schmetterlinge und Pflanzen, die der Heilige Lebensspender uns gegeben hat, haben keinen Ort mehr, an dem sie weiterleben könnten. Die Tiere haben kein Fleisch mehr, das Essen liefern könnte.

Ich bin nicht adlig von Geburt, und deshalb gibt es vieles, das mir verschlossen bleibt von den Wegen der Götter, die über uns wachen, vieles, das ich nicht höre von dem, was die Götter in das Ohr eines Königs flüstern würden. Aber ich weiß, dass früher nirgendwo sonst im Hochland so prächtige Kapokbäume wuchsen wie in Kanuataba, Kapokbäume, die den Weg in die Unterwelt säumen. Nirgendwo sonst auf der Welt standen die von den Göttern gesegneten Kapokbäume dichter als hier, die Stämme berührten sich fast. Jetzt gibt es in ganz Kanuataba nicht einmal mehr ein Dutzend davon! Unser heiliger See ist ausgetrocknet und nur noch Schlamm. Das Wasser, das dazu gemacht wurde, aus Stein emporzuschießen, ist versiegt im Palast und in den Tempeln. Auf den Plätzen betteln die Unberührbaren, damit wir ihre nutzlosen, gesprungenen Töpfe, ihr faulendes Gemüse und ihre verdünnten Gewürze für das Fleisch kaufen, das sich nur die Adligen leisten können. Es gibt keine Agutis, keine Kinkajus, kein Wild, keine Tapire mehr. Die Kinder von Kanuataba werden mit jeder großen Reise der Sonne über den Himmel hungriger.

Mögest du mir vergeben, Affen-Schreiber, dessen Ring ich trage als Symbol meines Standes und zur Erinnerung an die Schreiber der Vergangenheit. Hier in Kanuataba beginne ich meine Aufzeichnungen auf dem jungfräulichen Rindenpapier, das ich dem König gestohlen habe. Ich habe wenig beigetragen zu den Büchern von Kanuataba. Ich bin der Erzieher des Königssohnes, und ich habe zweiundvierzig Bücher im Auftrag des Herrscherhauses gemalt. Aber jetzt male ich für das Volk, für die Kinder unserer Kindeskinder, es soll dies ein aufrichtiger Bericht dessen sein, was in der Zeit von Jaguar Imix über uns kam!