»Nein, aber –«
Stanton ließ sie nicht ausreden. »Hören Sie, Dr. … Thane, nicht wahr? Wir bekommen etliche Tausend Anrufe im Jahr, und nur bei einer Hand voll bestätigt sich der Verdacht einer Prionenerkrankung. Melden Sie sich wieder, wenn der Gentest positiv ist.«
»Doktor, alle Symptome deuten darauf hin, dass –«
»Lassen Sie mich raten. Ihr Patient hat einen unsicheren Gang.«
»Nein.«
»Gedächtnisverlust?«
»Das wissen wir nicht.«
Stanton klopfte an die Glasscheibe eines Käfigs. Aber keines der Tiere reagierte. »Und auf welche Symptome stützt sich dann Ihr Verdacht, Doktor?«, fragte er abwesend.
»Demenz und Halluzinationen, irrationales Verhalten, Muskelzittern und starkes Schwitzen. Und ein ganz schlimmer Fall von Schlaflosigkeit.«
»Schlaflosigkeit?«
»Wir dachten zuerst an Alkoholentzug, als er eingeliefert wurde«, erklärte Thane. »Aber bei Alkoholmissbrauch hätte sich ein Folsäuremangel nachweisen lassen müssen, und das war nicht der Fall. Also habe ich weitere Tests gemacht, und ich denke, es könnte sich um letale familiäre Insomnie handeln.«
Jetzt hatte sie Stantons volle Aufmerksamkeit.
»Wann wurde er eingeliefert?«
»Vor drei Tagen.«
Bei der letalen familiären Insomnie – oder FFI, nach dem englischen Begriff Fatal Familial Insomnia – handelte es sich um eine rasch fortschreitende Krankheit, die durch ein mutiertes Gen hervorgerufen wurde. Sie gehörte zur Gruppe jener wenigen Prionenerkrankungen, die erblich waren. Stanton hatte in seiner Laufbahn ein halbes Dutzend Fälle gesehen. Die meisten FFI-Patienten begaben sich zunächst in ärztliche Behandlung, weil sie ständig schwitzten und an Schlafstörungen litten. Binnen kurzer Zeit konnten sie überhaupt nicht mehr schlafen. Hinzu kamen Impotenz, Panikattacken, Bewegungsstörungen. Der Schlafmangel, der die Patienten zwischen einem halluzinatorischen Wachzustand und einer Panik auslösenden Munterkeit gefangen hielt, führte meist nach wenigen Wochen zum Tod. Und es gab nichts, was Stanton oder irgendein anderer Arzt dagegen tun konnte.
»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagte er. »FFI wird weltweit nur bei einem von dreiunddreißig Millionen Patienten diagnostiziert.«
»Was sonst könnte die Ursache für totale Schlaflosigkeit sein?«, fragte Thane.
»Eine fehldiagnostizierte Methamphetaminabhängigkeit.«
»Wir sind hier in East L.A., Doktor. Ich habe das Vergnügen, jeden Tag eine Meth-Fahne zu riechen. Und der Drogentest war negativ.«
»Weniger als vierzig Familien weltweit sind von FFI betroffen«, sagte Stanton, während er langsam an den Käfigen vorbeiging. »Und Sie hätten es mir sicher schon gesagt, wenn es eine entsprechende Vorgeschichte gäbe.«
»Ehrlich gesagt konnten wir uns noch nicht mit dem Mann unterhalten, weil wir ihn nicht verstehen. Er sieht aus wie ein Latino, möglicherweise auch wie ein Indio aus Mittel- oder Südamerika. Wir haben schon einen Übersetzerdienst eingeschaltet. Aber heutzutage ist das meistens nur ein einziger Typ mit einem nicht näher qualifizierten Abschluss und einem Stapel ausgemusterter Wörterbücher.«
Stanton spähte in den nächsten Käfig. Die Schlange darin verharrte regungslos. Ein kleiner, dünner grauer Schwanz hing ihr aus dem Maul. Das Gleiche würde in den nächsten vierundzwanzig Stunden, wenn auch die anderen Schlangen Hunger bekämen, in allen anderen Käfigen passieren. Selbst nach so vielen Jahren im Labor wollte Stanton lieber nicht zu lange darüber nachdenken, welche Rolle er im Leben dieser Mäuse spielte.
»Wer hat den Patienten eingeliefert?«, fragte er.
»Laut Aufnahmeformular eine Ambulanz, aber ich finde nirgends einen Hinweis darauf, von welcher Organisation.«
Das passte zu dem, was Stanton sonst über das Presbyterian Hospital wusste. Nur wenige andere Einrichtungen in East L.A. waren so überfüllt und so verschuldet wie dieses Krankenhaus.
»Wie alt ist der Patient?«, fragte er.
»Wahrscheinlich Anfang dreißig. Ich weiß, das ist ungewöhnlich, aber ich habe Ihren Aufsatz über Altersabweichungen bei Prionenerkrankungen gelesen und dachte, dass wir es hier vielleicht mit einem solchen Fall zu tun haben.«
Thane verstand etwas von ihrem Job, doch ihre Gründlichkeit änderte nichts an den Tatsachen. »Ich bin sicher, wenn Sie erst einmal die Ergebnisse der Gentests vorliegen haben, wird sich das alles schnell aufklären. Sie können Dr. Davies später gerne anrufen, falls Sie noch weitere Fragen haben.«
»Halt! Nicht auflegen! Warten Sie, Doktor!«
Stanton musste ihre Hartnäckigkeit bewundern. Als Assistenzarzt war er auch eine ganz schöne Nervensäge gewesen. »Ja?«
»Letztes Jahr wurde eine Studie veröffentlicht, der zufolge Amylase ein biologischer Marker für Schlafmangel ist.«
»Ja, ich kenne diese Studie. Und?«
»Bei meinem Patienten wurden dreihundert Einheiten pro Milliliter gemessen, das heißt, er hat seit über einer Woche nicht mehr geschlafen.«
Stanton trat von dem Käfig zurück. Über eine Woche ohne Schlaf?
»Hat er epileptische Anfälle?«
»Die Hirnuntersuchung hat Hinweise darauf ergeben«, antwortete Thane.
»Wie sehen seine Pupillen aus?«
»Stecknadelkopfgroß.«
»Reaktion auf Lichteinfall?«
»Nein, keine.«
Tagelange Insomnie. Schwitzen. Anfälle.
Stecknadelkopfgroße Pupillen.
Von den wenigen Voraussetzungen, die diese Kombination von Symptomen auslösen konnten, waren die anderen noch seltener als FFI. Stanton streifte seine Handschuhe ab. Die Mäuse waren vergessen. »Lassen Sie niemanden zu dem Patienten. Ich komme, so schnell ich kann.«
2
Chel Manu kam wie immer, als der Gottesdienst schon fast zu Ende war. Die Fahrt von ihrem Büro im Getty Museum zur Kathedrale Our Lady of the Angels – der Mutterkirche für die vier Millionen Katholiken in Los Angeles – dauerte im dichten Berufsverkehr fast eine Stunde, aber sie genoss den allwöchentlichen Ausflug. Da sie die meiste Zeit in ihrem Forschungslabor im Museum oder in den Vorlesungssälen der UCLA eingesperrt war, war sie froh, wenn sie Gelegenheit hatte, aus dem westlichen Teil der Stadt herauszukommen, auf den Freeway einzubiegen und einfach nur zu fahren. Nicht einmal der Verkehr, der Fluch von Los Angeles, machte ihr etwas aus. Die Fahrt zur Kirche in Downtown L.A. war so etwas wie eine kleine Auszeit, eine besinnliche Pause, in der sie alle störenden Geräusche ausblenden konnte: die Forschungsarbeit, das Budget, die Kollegen, die Fakultätsausschüsse, ihre Mutter. Sie würde eine – oder auch zwei – rauchen, den Rocksender KCRW hören und ein bisschen abschalten. Jedes Mal, wenn sie sich ihrer Ausfahrt näherte, wünschte sie, sie könnte einfach weiterfahren.
Vor der Kathedrale schnippte sie die Kippe ihrer zweiten Zigarette in den Mülleimer, der unter der eigenartigen androgynen Monumentalfigur der Muttergottes am Eingang angebracht war. Dann stieß sie die schwere Bronzetür auf. Im Inneren der Kirche ließ Chel die vertrauten Eindrücke auf sich wirken: den süßen Duft von Weihrauch, den Gesang von Kirchenliedern und das gedämpfte erdfarbene Licht, das durch die Alabasterfenster auf die Gesichter der kleinen Gemeinde von Maya-Einwanderern fiel.
Am Predigtpult, unter fünf golden gerahmten Darstellungen der fünf Abschnitte im Leben Jesu, stand Maraka, der ältere bärtige »Hüter des Tages«, wie der Priester auch genannt wurde, und schwenkte ein Weihrauchfass.
»Tewichim«, psalmodierte er in Qu’iche, jenem Maya-Dialekt, der in Guatemala von über einer Million indígenas gesprochen wurde. »Tewichim gukumatz, k’astajisaj.« Gelobt sei die gefiederte Schlange, die Spenderin des Lebens.