Maraka wandte sich nach Osten und nahm dann einen kräftigen Schluck baalché, dem milchig weißen heiligen Trank, der aus Baumrinde, Zimt und Honig gemacht wurde. Als er fertig war, stimmten die Gläubigen auf sein Zeichen hin wieder ein Lied an. Das Ritual gehörte zu jenen uralten Bräuchen, die zu praktizieren der Erzbischof ihnen ein oder zwei Mal die Woche erlaubt hatte, vorausgesetzt, die indígenas besuchten auch weiterhin die traditionelle katholische Messe.
Chel versuchte, sich möglichst unauffällig am Rand des Kirchenschiffs entlangzudrücken, doch einer der Männer bemerkte sie und winkte ihr eifrig. Sie hatte ihm geholfen, die Formulare für die Einwanderungsbehörde auszufüllen, und seitdem hatte er sie ein halbes Dutzend Mal gefragt, ob sie nicht mit ihm ausgehen wolle. Sie hatte abgelehnt und geschwindelt, sie sei in festen Händen. Mit ihren eins fünfundfünfzig unterschied sie sich sicherlich von den meisten Frauen, denen man hier in Los Angeles begegnete, aber viele Männer fanden sie ausgesprochen schön.
Chel wartete neben dem Räucheraltar, bis der Gottesdienst zu Ende war. Sie ließ den Blick über die Gesichter der Gläubigen schweifen, unter denen sich mindestens zwei Dutzend Weiße befanden. Noch vor Kurzem hatte die Fraternidad nur sechzig Mitglieder gezählt, Nachfahren der Maya aus deren ursprünglichen Siedlungsgebieten, einschließlich Chels Heimat Guatemala, die sich montagmorgens hier versammelten, um zu den Göttern ihrer Vorfahren zu beten und die alten Traditionen zu pflegen.
Doch dann waren immer mehr Anhänger der Apokalypse aufgetaucht. »2012er« wurden sie in der Presse genannt. Anscheinend glaubten sie, sie würden beim Weltuntergang, der ihrer Meinung nach in knapp zwei Wochen stattfinden würde, verschont, wenn sie an den Maya-Zeremonien teilnahmen. Es gab natürlich auch solche 2012er, die sich nicht die Mühe machten, hierherzukommen, sondern ihre Ansichten über das Ende der sogenannten Langen Zählung der Maya von der eigenen Kanzel aus predigten. Einige prophezeiten verheerende Überschwemmungen, katastrophale Erdbeben und die Umkehrung der Magnetfelder an den Polen, wodurch jegliches Leben auf der Erde ausgelöscht würde. Andere behaupteten, unsere hoch technisierte Welt werde zusammenbrechen und die Menschheit auf eine primitivere Entwicklungsstufe zurückgeworfen. Seriöse Maya-Experten, darunter auch Chel, fanden die Idee, am 21. Dezember könne die Welt untergehen, einfach absurd. Doch das hielt die 2012er nicht davon ab, das uralte Wissen der Maya zu benutzen, um T-Shirts oder Karten für ihre Vorträge an den Mann zu bringen oder um Chels Volk in nächtlichen Fernsehshows zur Zielscheibe des Spotts zu machen.
»Chel?«
Als sie sich umdrehte, stand Maraka hinter ihr. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Zeremonie zu Ende war und die Kirchenbesucher sich aus den Bankreihen schoben.
Der »Hüter des Tages« legte ihr die Hand auf die Schulter. Er war inzwischen fast achtzig, und seine früher einmal schwarzen Haare waren ganz weiß geworden. »Willkommen. Du kannst ins Büro, es ist alles vorbereitet. Es wäre natürlich schön, wenn du auch einmal wieder den Gottesdienst besuchen würdest.«
Chel zuckte mit den Schultern. »Ich versuch’s, versprochen. Ich hatte in letzter Zeit viel um die Ohren, Hüter des Tages.«
Maraka lächelte. »Das weiß ich, Chel. In Lak’ech.«
Ich bin du, und du bist ich.
Chel neigte den Kopf. Die traditionelle Grußformel war sogar in Guatemala ungebräuchlich geworden, aber viele alte Menschen legten noch immer Wert darauf, und Chel fand, wenn sie schon kein Interesse mehr am Besuch des Gottesdienstes hatte, konnte sie Maraka wenigstens diesen Gefallen tun.
Und so erwiderte sie leise: »In Lak’ech.« Dann ging sie in den hinteren Teil der Kirche.
Vor dem Büro, in dem sie jede Woche eine Art Sprechstunde abhielt, warteten schon etliche Hilfesuchende. Die Larakams waren die Ersten. Chel hatte gehört, dass Vicente in die Fänge eines Kredithais geraten war, der sein Geschäft mit Leuten wie den Larakams machte – Einwanderer, die nicht glauben konnten, dass das Leben hier vielleicht noch schlimmer war als das, das sie in Guatemala hinter sich gelassen hatten. Chel fragte sich, ob Ina, Vicentes Frau, die einen intelligenten Eindruck auf sie machte, es vielleicht geahnt hatte. Ina trug einen bodenlangen Rock und eine huipil genannte Baumwollbluse mit einem komplizierten Zickzackmuster. Die traditionelle Kleidung unterstrich ihre traditionelle Rolle als Ehefrau, und das bedeutete, sie würde ihrem Mann nicht widersprechen, egal, wie schlecht sein Urteilsvermögen auch sein mochte.
»Danke, dass wir kommen durften«, sagte sie ruhig.
Vicente erklärte langsam, dass er sich Geld zu Wucherzinsen geliehen hatte, damit sie sich eine Einzimmerwohnung in Echo Park mieten konnten, und jetzt waren die Belastungen höher als sein Lohn als Landschaftsgärtner. Er machte ein Gesicht, als lastete die ganze Welt auf seinen Schultern. Ina stand stumm neben ihm, aber ihre Augen sahen Chel flehentlich an. Die beiden Frauen verstanden sich auch ohne Worte. Chel begriff, wie viel Überwindung es Vicente gekostet hatte, hierherzukommen und sie um Hilfe zu bitten.
Wortlos gab er Chel den Vertrag des Halsabschneiders, den er unterschrieben hatte, und als sie das Kleingedruckte las, stieg eine vertraute Wut in ihr hoch. Vicente und Ina waren nur zwei von den zahllosen Einwanderern aus Guatemala, die sich, überwältigt von der Flut neuer Eindrücke, in diesem Land zurechtzufinden versuchten, und es gab genug Leute, die das gnadenlos ausnutzten. Andererseits waren die Nachfahren der Maya schlicht zu vertrauensselig. Nicht einmal fünfhundert Jahre Unterdrückung hatten es geschafft, sie mit einem Mindestmaß an überlebensnotwendigem Zynismus auszustatten, und dafür mussten sie teuer bezahlen.
Doch zum Glück für die Larakams hatte Chel ausgezeichnete Kontakte, vor allem zu Rechtsanwälten und anderen Beratungsstellen. Sie schrieb ihnen den Namen eines Anwalts auf, mit dem sie sich in Verbindung setzen sollten. Doch bevor sie sich verabschieden konnte, griff Ina in ihre Tasche, zog eine Plastikdose heraus und reichte sie Chel.
»Pepian«, sagte sie. »Meine Tochter und ich haben es für Sie gekocht.«
Chels Tiefkühltruhe war bereits randvoll mit dem süßlichen Hühnergericht, das sie immer wieder von Mitgliedern der Fraternidad geschenkt bekam, aber sie bedankte sich und nahm es trotzdem. Der Gedanke, dass Ina und deren kleine Tochter es gemeinsam zubereitet hatten, machte sie glücklich. Die guatemaltekische Gemeinde hatte eine Zukunft in L.A., und darüber freute sie sich von ganzem Herzen. Chels eigene Mutter, die in einem kleinen Dorf in Guatemala aufgewachsen war, verbrachte den Morgen wahrscheinlich vor dem Fernseher, schaute sich Good Morning Amertca an und aß eine Schale Cornflakes dazu.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte Chel, als sie Vicente die Unterlagen zurückgab. »Und seien Sie das nächste Mal vorsichtiger. Lassen Sie sich nicht auf irgendwelche Geschäfte mit jemandem ein, dessen Gesicht Sie an der Bushaltestelle sehen. Das macht diese Leute nicht zu Berühmtheiten. Jedenfalls nicht im positiven Sinne. Kommen Sie lieber zu mir.«
Vicente nahm seine Frau bei der Hand und lächelte angespannt. Dann verließen sie das Büro.
Eine Stunde lang kümmerte sich Chel um die Anliegen, die an sie herangetragen wurden. Sie erklärte einer Schwangeren ein Programm für Schutzimpfungen, schaltete sich für Marakas Vertreter wegen einer strittigen Kreditkartenabrechnung ein und befasste sich mit der Klage eines Vermieters gegen einen alten Freund ihrer Mutter.
Als ihr letzter Besucher gegangen war, lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Sie dachte an die antike Keramikvase im Getty Museum, in der man Überreste von Tabak gefunden hatte, einer der ältesten Tabakfunde überhaupt. Kein Wunder, dass es ihr so verdammt schwerfiel, das Rauchen aufzugeben. Die Menschen rauchten seit Jahrtausenden.