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Schließlich ging es nicht mehr weiter. Chel richtete ihre Taschenlampe auf einen Gang mit Türöffnungen zu beiden Seiten. Sie mussten jetzt sechs, sieben Meter unter der Erde sein. Nicht einmal am helllichten Tag hätte es hier unten noch natürliches Licht gegeben. Aber die Decken waren höher, sogar Stanton konnte fast aufrecht stehen.

»Da lang«, sagte Chel und ging ihm voraus durch den Gang. Sie leuchtete in zwei Räume, die beide leer waren. Dann hatte sie gefunden, wonach sie suchte.

In der Mitte der letzten Kammer stand ein Kalksteinsarkophag.

Die letzte Ruhestätte von König Jaguar Imix.

»Ist es das?«, sagte Stanton, der dicht hinter ihr stand, in das kleine Helmmikrofon.

Seine Stimme drang leicht verzerrt durch den winzigen Stöpsel in Chels Ohr. Sie nickte.

Sie sah mit einem Blick, dass die Grabkammer geplündert worden war. Aber Volcy hatte vieles zurückgelassen: kunstvoll geschnittene Feuersteine und verrostete Halsketten, Anhänger aus Muschelschalen, Figuren in Schlangenform.

Und Skelette.

Chel war körperlich vollkommen erschöpft, aber ihr Verstand war hellwach und nahm begierig jedes Detail in sich auf. Vierzehn oder fünfzehn Skelette, alle mit rotbraunem Zinnober überstäubt, waren nach rituellem Brauch um den Sarkophag herum angeordnet. Wahrscheinlich waren sie an der gleichen Krankheit gestorben, der sie selbst zum Opfer fallen würde, und hatten sich genauso gefühlt, wie sie sich jetzt fühlte: abgeschlagen, müde, übermäßig erhitzt und panisch, weil sie nicht mehr schlafen, nicht mehr träumen konnten.

»Wer sind die anderen?«, fragte Stanton.

»Die Menschen früher glaubten, dass ein König bei seinem Tod nur eine seiner neununddreißig Seelen verlor und dass die anderen achtunddreißig weiterleben oder in die jenseitige Welt eingehen würden. Darum mussten den Göttern andere Seelen geopfert werden, damit der ajaw sicher ankam.« Chel zeigte auf die sechs kleinsten Skelette. »Auch Kinder.«

Stanton ging in die Hocke. »Siehst du die voll ausgebildeten Hüftknochen bei diesem hier? Das ist ein kleinwüchsiger Erwachsener.«

Jacomo, der Zwerg. Er war zusammen mit seinem König bestattet worden.

Ein hohes, sirrendes Pfeifen ertönte, und Chel fuhr erschrocken zusammen. Als sie sich umdrehte, sah sie eine Wolke aus flatternden schwarzen Leibern. Fledermäuse. Sie flogen direkt auf sie zu.

»Runter!«, schrie Stanton. »Sie zerreißen uns die Anzüge!«

Chel verlor eine Sekunde lang die Orientierung in dem flatternden Gewimmel. Sie streckte die Hand nach der Wand aus, doch sie griff ins Leere und fiel zu Boden. Stanton ruderte wild mit den Armen und scheuchte die Fledermäuse in den Gang hinaus.

Ihr schrilles Kreischen verlor sich in der Dunkelheit.

Chel blieb benommen liegen. Sie wusste nicht, ob sie die Kraft hatte aufzustehen. In dem Schutzanzug fühlten sich ihre Arme und Beine starr an und wie versteift. Ihre Muskeln schmerzten. Sie lag auf dem Boden, auf Augenhöhe mit den uralten Skeletten, und spürte, wie eine ungeheure Mattigkeit sie überkam. Gerade als sie ergeben die Augen schließen wollte, fiel ihr Blick auf etwas metallisch Glänzendes im Staub. Es war ein großer Jadering mit einer in den Stein eingeschnittenen Glyphe.

Der Affen-Schreiber.

Chel streckte die Hand aus. Paktuls Ring.

Der Prinz war entkommen, Auxilas Töchter ebenfalls. Sie waren Paktuls Krafttier, dem scharlachroten Ara, gefolgt und dorthin gelangt, wo heute Kiaqix lag. Paktul selbst hatte es nicht geschafft. Wahrscheinlich war er von den Wachen des Königs getötet worden. Danach hatten sie ihn mitsamt seinem Ring und seinem Buch in der königlichen Grabkammer bestattet.

Chel betrachtete die Totenschädel und fragte sich, welcher von ihnen wohl der von Paktul sein mochte. Irgendwo hier lagen die sterblichen Überreste des Urvaters ihres Volkes. Auch wenn sie sein Skelett niemals zweifelsfrei würden identifizieren können, so half es Chel doch, zu wissen, dass sie ihn gefunden hatten. Ein Gefühl der Zufriedenheit erfüllte sie.

Stanton half ihr auf, aber sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er musste sie stützen, als sie mit schleppenden Schritten zum Sarkophag schlurfte. Der Deckel aus Kalkstein war über und über mit kunstvollen, in den Stein gemeißelten Ornamenten verziert. Man sah, dass er nicht bewegt worden war – Volcy hatte also nicht hineingeschaut. Er musste die Bilderhandschrift schnell gefunden und gewusst haben, dass er nicht mehr brauchte, dass diese eine Kostbarkeit genügte.

»Kriegst du den Deckel herunter?«, fragte sie Stanton.

Er gab ihr seine Taschenlampe, packte die schwere Steinplatte an einer Ecke und begann, daran zu ruckeln und sie hin und her zu schieben. Dann ging er zur nächsten Ecke und machte es genauso. Schließlich hatte er die Platte so weit gelockert, dass er sie herunterschieben konnte. Krachend fiel sie zu Boden, und das Poltern hallte in der Grabkammer wider.

Chel lehnte an der Wand und schaute zu, wie er Knochen und Artefakte herausnahm. Eine Jademaske mit Augen aus Perlen und Reißzähnen aus Quarz. Einen langen Speer mit einer scharfen Spitze aus Jade. Schmuckspangen aus Jade.

Aber keinerlei Gefäße. Keine Wasserkannen. Keine Behälter für Kakaobohnen oder Mais. Nichts, was der Aufbewahrung von Nahrungsmitteln gedient hätte. Nur Schmuck, Masken, Waffen.

Kostbarkeiten von unschätzbarem Wert. Aber nutzlos.

Chel hatte fest geglaubt, dass sie Tongefäße als Grabbeigaben finden würden, die sie auf Spuren von Lebensmitteln aus der damaligen Zeit untersuchen könnten. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Gabe«, stammelte sie betroffen. »Ich –«

Stanton achtete nicht auf sie. Er ging zu einem der kleineren Skelette, dem des Zwergs, und löste den Schädel vom Rumpf.

»Was hast du vor?«

»Die Zähne.« Stanton zeigte darauf.

»Was ist damit?«

»Vielleicht geben uns die Zähne einen Hinweis darauf, was sie gegessen haben. Körner halten ewig. Selbst wenn ihre Vorräte erschöpft waren, finden wir im Gebiss eventuell noch Reste von stärkehaltigen Nahrungsmitteln, die sie lange vor ihrem Tod gegessen haben.«

Stanton trennte weitere Schädel ab und machte sich unverzüglich an die Arbeit. Chel sah ihm eine Weile zu, dann schloss sie die Augen. Es war hell. Seltsam hell. Trotz der Dunkelheit. Und ihr Hirn in dem stickigen Helm wurde regelrecht gekocht. »Falls du mich hier zurücklassen musst …«, begann sie, aber da dachte sie schon wieder an Paktul, dessen Ring sie über dem Handschuh über ihren Finger gestreift hatte, und dann an ihre Mutter und wie falsch sie gelegen hatte bei ihr. Sie hörte nicht, wie Stanton antwortete:

»Ich verlasse dich nie.«

***

Stanton entfernte zuerst den sichtbaren Zahnstein und schabte dann mit einem Schablonenmesser die Zähne ab. Er nahm sich jeden Abschnitt der Gebisse drei Mal vor, bevor er das abgeschabte Material auf Objektträger gab. Das war selbst unter optimalen Bedingungen eine heikle Arbeit – in der Dunkelheit, mit nur einer Taschenlampe als Lichtquelle, war es nahezu unmöglich.

Aber Stanton, der langsam und gründlich arbeitete, schaffte es.

Dann, im schwachen Schein des batteriebetriebenen Mikroskops, verglich er die Präparate mit den Abbildungen in einem Nachschlagewerk. Es gelang ihm, etliche Pflanzenarten anhand der typischen Form ihrer Stärkemoleküle zu identifizieren: Mais; Bohnen; Avocado; Brotnuss; Papaya; Pfefferschoten; Kakao. Er fand Hunderte verschiedene Rückstände auf den Zähnen, aber er hielt es für unwahrscheinlich, dass eines dieser ganz gewöhnlichen Nahrungsmittel den König und dessen Gefolge vor VFI geschützt hatte.

Plötzlich entdeckte er etwas vollkommen Unerwartetes. Stärkemoleküle, die er auf Anhieb, auch ohne Nachschlagewerk, erkannte.