Es waren Stärkemoleküle von Buchen. Stanton konnte nicht glauben, was er da sah. Buchen wuchsen normalerweise im gebirgigen Hochland, wie etwa in Zentralmexiko. Er hätte niemals damit gerechnet, im tropischen Regenwald von Guatemala auf Buchen zu stoßen, und er kannte auch keinen Botaniker, der diese Möglichkeit überhaupt ins Auge gefasst hätte. Das bedeutete, es handelte sich möglicherweise um eine bisher unbekannte Art, die nur hier vorkam.
Der Hauptbestandteil in der Buche war Pentosan-Polysulfat, auf das man einst große Hoffnungen bei der Bekämpfung von Prionenkrankheiten gesetzt hatte. Das Problem war, dass der Wirkstoff, gleichgültig, aus welcher Buchenart er gewonnen worden war, die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren konnte. Und so war es als Therapie bei VFI gar nicht erst in Betracht gezogen worden.
Etwas allerdings machte Stanton stutzig. Die Früchte der Buche waren zwar essbar, ihr Geschmack jedoch war ebenso wie ihr Geruch, wenn sie geröstet wurden, unverkennbar bitter. Die ganze Stadt hätte Woche für Woche Unmengen davon essen müssen, um gegen pathogene Prionen immun zu werden.
Ein Gedanke durchzuckte ihn. Er ging zu Chel hinüber und tippte ihr leicht auf die Schulter. »Eine Frage«, flüsterte er. »Haben die Maya Baumrinde gekaut?«
Sie hatte die Augen geschlossen, sie war in sich selbst, in ihrer eigenen Welt, versunken. Er hatte sie angetrieben auf ihrem Marsch durch den Dschungel, weiter, als sie es für möglich gehalten hätte. Er hatte ihr Hoffnung gemacht. Und mit dieser Hoffnung im Herzen hatte sie ihn hierher geführt. Jetzt lag sie im Sterben.
»In lak’ech«, war alles, was sie wisperte.
Stanton eilte zurück zu den Präparaten. Er erinnerte sich jetzt an eine Stelle in der Handschrift, wo beschrieben wurde, wie der Zwerg auf etwas herumkaute und es dann ausspie, und Stanton wäre jede Wette eingegangen, dass es sich dabei um Buchenrinde gehandelt hatte. Das war das Heilmittel gewesen, das sie vor Ansteckung geschützt hatte. In diesem Regenwald hatte sich offenbar eine neue Buchenart entwickelt, deren Wirkstoff in der Lage war, die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Der Verzehr der Rinde hatte die Maya geschützt – bis zu dem Tag, als sie auch den letzten Baum gefällt und verbrannt hatten.
Es gab nur eine Hoffnung, nämlich die, dass der Bestand sich erholt hatte. Falls die Maya nicht den gesamten Regenwald ringsum kahlgeschlagen hatten (was selbst in der heutigen Zeit nicht einfach wäre), mussten irgendwo dort draußen ein paar Buchen nachgewachsen sein. Die Natur erneuerte sich immer wieder selbst. Die Frage war nur, wie er diese Bäume in völliger Dunkelheit erkennen sollte. Das Laub würde er nicht sehen können. Er würde sie nur anhand ihrer Rinde erkennen können. Und sein Bauchgefühl sagte ihm, dass die guatemaltekischen Buchen genau wie ihre Verwandten anderswo eine vollkommen glatte silbergraue Rinde hatten.
***
Als Stanton aus der Pyramide trat, begann seine Taschenlampe zu flackern. Sie war stundenlang eingeschaltet gewesen. Er beschloss, Zweige zu sammeln und als Fackel zu benutzen, damit er die Taschenlampenbatterie schonen konnte.
Unweit des Eingangs zu der Grabanlage sah er Kiefern und Eichen, aber keine Buchen. Er ging zu den Zwillingstempeln, wo sich aus jeder Steinspalte irgendein Gewächs zwängte, und sammelte ein zweites Bündel Zweige, das er am ersten anzündete. Es war stiller geworden im Dschungel. Nur die Grillen spielten ihre nächtliche Sinfonie. Als Stanton sich nach Reisig bückte, wechselten plötzlich zwei Rehe vor ihm über den Weg, und er fuhr unwillkürlich zusammen.
Im Schein der Fackel stapfte er tiefer in den Wald hinein, vorbei an Baumstämmen, so massig wie der Rumpf eines Flugzeugs. Stanton konnte in der Dunkelheit unmöglich schätzen, wie hoch diese Baumriesen waren. Er hatte Mühe, die Richtung zu halten, und merkte bald, dass er im Kreis ging, weil er immer wieder an denselben Orientierungspunkten vorbeikam.
Als er aus dem Wald heraustrat und sich auf der Rückseite der Grabpyramide wiederfand, schlug seine Frustration um in Verzweiflung. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er es geschafft hatte, ungewollt an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren. Die Fackel erlosch. Stanton bückte sich und tastete den Boden blindlings nach Zweigen ab. Als er etwas Stacheliges durch seinen Handschuh hindurch spürte, riss er ein Streichholz an, um nachzusehen, was es war. Auf der Erde lag eine braune Kapsel mit winzigen spitzen Fortsätzen, die nicht größer war als seine Daumenkuppe.
Eine Buchecker.
Stanton richtete sich auf und hielt sie in die Höhe, als wollte er ihren Weg zur Erde umkehren. Und dann sah er den Baum mit der glatten grauen Rinde, von dem die Frucht heruntergefallen war. Im Licht seines Streichholzes konnte Stanton nicht erkennen, wie hoch die Buche war. Aber jetzt sah er, dass es nicht die einzige war: Etwa ein Dutzend standen in einer Reihe nebeneinander. Die Äste reckten sich der Pyramide entgegen, als wollten sie sie berühren.
***
Wie ein Vogel hoch am Himmel in böigem Wind trieb Chel zwischen Licht und Dunkelheit. In den lichten Momenten fühlte sich ihre Zunge an wie Sandpapier; jede Faser ihres Körpers schmerzte, so unerträglich heiß war ihr. Die Krankheit kroch durch ihre Gedanken wie eine Spinne. Aber sobald sich die Dunkelheit über sie senkte, tauchte sie dankbar ein in eine Flut von Erinnerungen.
Paktul, der geistige Gründer von Kiaqix, ruhte neben ihr; was auch immer geschehen mochte, sie fühlte sich sicher und geborgen in seiner Gegenwart. Falls es ihr bestimmt war, ihm zu folgen, dorthin zu gehen, wohin Rolando und ihr Vater vorausgegangen waren, würde sie vielleicht den Ort sehen, von dem die Alten immer erzählten. Den Wohnsitz der Götter.
***
Als Stanton in die Grabkammer zurückkam, saß Chel so da, wie er sie verlassen hatte, zusammengesunken an der Wand. Doch dann sah er zu seinem Entsetzen, dass sie ihren Helm abgenommen und den Schutzanzug heruntergerissen hatte. Vermutlich hatte die unerträgliche Hitze sie fast wahnsinnig gemacht. Doch die ungefilterte Luft, die sie jetzt einatmete, würde alles nur noch schlimmer machen. Er überlegte, ob er versuchen sollte, ihr den Anzug wieder überzustreifen, aber er wusste, dass es sinnlos wäre.
Chels einzige Hoffnung lag jetzt woanders.
Im schwachen Schein der Taschenlampe machte er sich an die Arbeit. Er zerstampfte Stücke von Buchenblättern, Buchenrinde, Buchenholz und Bucheckern und vermischte den Brei mit Kochsalzlösung und Enzymen zur Aufspaltung der Stärke. Dann zog er die Flüssigkeit in eine Injektionsnadel auf und spritzte sie Chel in eine Armvene. Sie reagierte kaum auf den Einstich.
»Du schaffst es«, sagte er mit beschwörender Stimme. »Bleib bei mir.«
Er warf einen Blick auf seine Uhr. Er schätzte, bis in zwanzig Minuten sollten erste Anzeichen einer Reaktion zu erkennen sein. Es war 23 Uhr 15.
***
Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob der Wirkstoff tatsächlich die Blut-Hirn-Schranke passiert hatte: Stanton musste eine Liquorpunktion vornehmen. Falls der Wirkstoff aus der Buche sich in der Rückenmarksflüssigkeit befand, musste er über das Herz ins Hirn gelangt sein und von dort in die das Gehirn umgebende Flüssigkeit.
Als die zwanzig Minuten um waren, führte Stanton vorsichtig eine Hohlnadel zwischen zwei Wirbeln ein. Er hatte Männer erlebt, die bei einer Liquorpunktion vor Schmerzen laut geschrien hatten. Chel ging es so schlecht, dass sie keinen Laut von sich gab.
Stanton träufelte jeweils ein paar Tropfen Spinalflüssigkeit auf sechs Objektträger und wartete. Dann schloss er die Augen und flüsterte nur ein einziges Wort: »Bitte!«
Er legte den ersten Objektträger unter das Mikroskop und studierte das Präparat ganz genau. Dann prüfte er den zweiten, dann den dritten.
Als er auch den sechsten und letzten Objektträger unter dem Mikroskop betrachtet hatte, lehnte er sich zurück, ratlos und niedergeschlagen.