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In keinem der Präparate hatte er Moleküle des Wirkstoffs gefunden. Die aus dieser Buchenart gewonnene Substanz konnte die Blut-Hirn-Schranke ebenso wenig passieren wie alle bisher getesteten.

Eine tiefe Verzweiflung übermannte ihn. Er war kurz davor, einfach aufzugeben, sich hinzulegen und sich der Dunkelheit zu überlassen. Dann vernahm er seltsame Geräusche von der anderen Seite der Grabkammer.

Er sprang auf und lief zu Chel hinüber. Ihre Beine zuckten heftig und unkontrolliert. Sie hatte einen Anfall. Die Hitze und die hohe Konzentration von Prionen in der Kammer hatten den Krankheitsverlauf beschleunigt. Falls das Fieber noch weiter anstieg, würde sie es nicht überleben. »Bleib bei mir«, flüsterte er inbrünstig. »Bleib bei mir!«

Stanton durchwühlte seinen Rucksack nach dem Hemd, das er eingepackt hatte. Er riss es in Streifen, die er mit dem letzten Rest Wasser aus ihren Trinkflaschen tränkte. Doch bevor er ihr die feuchten Tücher auflegen konnte, um ihre Körpertemperatur zu senken, spürte er, dass ihre Stirn kühler wurde. Ihr Körper gab auf. Als er ihr am Hals den Puls fühlen wollte, fand er ihn fast nicht, so schwach war er.

Der Krampfanfall ließ langsam nach. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit betete Stanton, auch wenn er nicht wusste, zu wem. Der Gott, den er verehrte, seit er erwachsen war – die Wissenschaft –, hatte ihn im Stich gelassen. Und er selbst würde die vielen Tausend – wenn nicht gar Millionen – Menschen, die sich mit VFI infiziert hatten und daran sterben würden, im Stich lassen müssen, weil er kein Heilmittel gefunden hatte. Und so betete er für sie alle. Er betete für Davies und für Cavanagh und für alle anderen vom Seuchenzentrum. Er betete für Nina. Aber am inbrünstigsten betete er für Chel, für die er nichts mehr tun konnte, genauso wenig wie für alle anderen. Falls sie starb – wenn sie starb –, blieb ihm nur die Erkenntnis, dass er nicht genug getan hatte.

Er schaute auf die Uhr. 23 Uhr 46.

Die Totenschädel schienen ihn höhnisch anzugrinsen, schienen ihn zu verspotten, weil er nicht hinter ihr Geheimnis gekommen war. Er würde Chel nicht hier zurücklassen, in dieser Gruft, mit diesen Skeletten und den Schädeln mit den leeren, starrenden Augenhöhlen.

In diesem Moment durchzuckte ihn ein furchtbarer Gedanke: Er würde Chel im Dschungel begraben müssen. Er dachte an ihre Worte in der Nacht zuvor, als sie am Rand von Kiaqix ebenfalls eng aneinandergeschmiegt an einer Mauer gesessen hatten. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Sie hatte ihn gefragt, ob er wisse, warum die Maya Weihrauch verbrannten für ihre Toten.

Ohne den Rauch kann die Seele eines Toten nicht in die Unterwelt gelangen. Wir alle hier sind in einer Zwischenwelt gefangen.

Was konnte er verbrennen, um diesem Brauch Genüge zu tun?

Ihm fiel ein, dass auch Paktul von Weihrauch und Kräutern gesprochen hatte, die verbrannt wurden. Stanton erinnerte sich an die Passage:

Als ich den Ara absetzte und mich hinkniete, um den widerlichen Kalksteinboden zu küssen, hatte sich der Geschmack verändert, ich konnte ihn nicht mehr auf der Zunge schmecken so wie früher.

Es gab doch sicher einen Grund dafür, dass sich der Geschmack verändert hatte. Und wenn Paktul diese Veränderung bemerkt hatte, dann vielleicht deshalb, weil das Bittere fehlte …

Stanton stand auf, schob seine Arme unter Chel und hob sie hoch. Er musste sie nach draußen bringen.

Er trug sie aus der Grabkammer und durch den Gang. Als er an der ersten Treppe angelangt war, hob er Chel auf seine Schulter und begann den schwierigen, mühsamen Aufstieg.

Einige Minuten später trat er aus der Pyramide in die Nacht hinaus. Gut drei Meter von der Nordseite der Pyramide entfernt war eine kleine Lichtung, groß genug, um dort ein Feuer zu machen. Stanton vermutete, dass Volcy hier sein Lager aufgeschlagen hatte.

Er legte Chel in einer Vertiefung zwischen den Baumwurzeln ab und rannte auf die andere Seite der Pyramide, wo er hektisch alle Buchenzweige aufsammelte, die er finden konnte. Dann lief er zurück, warf den Haufen vor Chel hin und zündete ihn mithilfe von Reisig an. Es dauerte nicht lange, bis die Flammen zum Himmel züngelten. Der beißende Geruch des Buchenholzfeuers hing in der Luft.

Stanton setzte sich ganz nah ans Feuer und bettete Chels Kopf in seinen Schoß. Er nahm den Helm seines Schutzanzugs ab. Dann hielt er ihr mit Daumen und Zeigefingern die Augen so weit auf, wie es ging. Er zwang sich, auch selbst die Augen weit aufzureißen, obwohl sie bald vom Rauch zu tränen begannen. Wenn der VFI-Erreger durch die Netzhaut ins Gehirn gelangte, fand das Gegenmittel vielleicht auf die gleiche Weise den Weg dorthin.

Fünf endlose Minuten lang saß Stanton neben dem lodernden Feuer und starrte auf Chel hinunter, hoffend und bangend, in ihrem Gesicht forschend, ob sie eine Reaktion zeigte, irgendeine, und wenn sie auch noch so schwach wäre. Er strich ihr das Haar aus der Stirn, fühlte ihr den Puls. Er achtete nicht darauf, aber der Sekundenzeiger seiner Armbanduhr tickte auf die letzten zwei Sekunden der vierten Welt.

Es war Mitternacht.

Der 21. Dezember 2012.

EPILOG

Für Millionen Menschen überall auf der Welt war es tatsächlich das Ende – das Ende des Lebens, wie sie es bis dahin gekannt hatten. Jahrzehntelang hatte die Entwicklung des technologischen Fortschritts, die Verstädterung, die globale Vernetzung nur eine Richtung gekannt: aufwärts. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit lebte in den Jahren vor 2012 die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten, und Prognosen zufolge würden es bis 2050 mehr als zwei Drittel sein.

Doch mit dem Ende der Langen Zählung änderte sich alles. Die Thane’sche Krankheit hatte einige der größten Metropolen der Welt regelrecht überrollt, und es ließ sich nicht vorhersagen, ob sie jemals wieder gefahrlos bewohnbar sein würden. Es gab immer noch kein Mittel, um das pathogene Prion zu zerstören, sodass die kontaminierten Orte, von denen täglich neue entdeckt wurden, unter Quarantäne gestellt werden mussten. In Einkaufszentren, Restaurants, Schulen, Bürogebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln von Amerika bis nach Asien wurden die Fahrzeuge und Teams von Spezialfirmen zur Entsorgung verseuchter Abfälle etwas, mit dem man zu leben lernte – oder vor dem man flüchtete.

Die Ausbreitung der Seuche führte innerhalb weniger Wochen zu einer Massenflucht aus vielen Großstädten weltweit. Einige Wirtschaftsexperten rechneten damit, dass ein Viertel der Bevölkerung von New York, San Francisco, Kapstadt, London, Atlanta und Shanghai binnen drei Jahren abwandern und sich in kleineren Städten, in den Vororten oder auch auf dem Land niederlassen würde, wo bereits zahlreiche Selbstversorgergemeinden entstanden waren.

L.A. war ein Fall für sich. Jeder Bewohner Südkaliforniens war auf die eine oder andere Weise von der Thane’schen Krankheit betroffen. Viele konnten sich nicht vorstellen, dort wohnen zu bleiben, nicht einmal dann, wenn es vollkommen sicher gewesen wäre.

Auch der berühmteste Arzt der Welt war nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Gemeinsam mit einem internationalen Team von Wissenschaftlern, dessen Leiter er war, wohnte Stanton in einem Zelt, das das Gesundheitsministerium von Guatemala in der Ruinenstätte von Kanuataba errichtet hatte. Einen Tag nachdem er Chel aus der versunkenen Stadt getragen hatte und zwei Stunden mit dem Jeep gefahren war, um irgendwo in der Zivilisation ein funktionierendes Telefon zu suchen, war Stanton mit Beamten des Gesundheitsministeriums zurückgekehrt. Seitdem hatte er den Dschungel nicht mehr verlassen.

Auf Basis der Proben, die er von den Buchen an der Grabpyramide genommen hatte, hatten Stanton und sein Team eine synthetische Infusion hergestellt, die, wenn sie innerhalb von drei Tagen nach der Infektion injiziert wurde, die Thane’sche Krankheit reversibel machen konnte. Die Buchen waren durch die intensive Nutzung fast ausgestorben, doch der Bestand hatte sich wieder erholt, nachdem die Maya Kanuataba verlassen hatten.