So kann’s gehen, dachte Stanton. Auf einmal ist alles vorbei. Egal, wie oft das Leben ihn auch zu dieser Erkenntnis zwingen mochte, der Gedanke verblüffte ihn immer wieder aufs Neue. Man trieb Sport und ernährte sich gesund, man ließ sich einmal im Jahr durchchecken, arbeitete vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche, ohne sich zu beklagen, und dann stieg man eines Tages einfach ins falsche Flugzeug, und das war’s.
»Dr. Stanton?«
Das Erste, was ihm an der groß gewachsenen Schwarzen im grünen Overall auffiel, waren die breiten Schultern. Die Frau war Anfang dreißig, hatte kurz geschnittene Haare und trug eine Brille mit dicken Gläsern und schwarzem Gestell, was ihr das Aussehen einer Exrugbyspielerin verlieh, die einen auf hip machte.
»Ich bin Michaela Thane.«
»Gabriel Stanton.« Er schüttelte ihr die Hand.
Thane schaute zum Fernseher hinauf. »Schrecklich, nicht wahr?«
»Weiß man schon, wie es passiert ist?«
»Angeblich menschliches Versagen.« Sie führte ihn aus der Notaufnahme. »Oder wie wir hier sagen: RDSA – Ruf die Scheißanwälte an.«
»Apropos anrufen – ich nehme an, Sie haben das Gesundheitsamt informiert?«, fragte Stanton, als sie zum Lift gingen.
Thane drückte mehrmals auf einen Knopf, der partout nicht aufleuchten wollte. »Sie haben versprochen, jemanden herzuschicken.«
»Ich schätze, das kann dauern«, bemerkte Stanton trocken.
Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Stanton lächelte.
Endlich kam der Lift. In der Kabine drückte Thane auf den Knopf mit der Sechs. Ihr Ärmel rutschte dabei ein Stück hoch, und Stanton bemerkte die Tätowierung auf ihrem Trizeps – ein Weißkopfadler mit einer Schriftrolle zwischen den Schwingen.
»Sie kommen von der Army?«
»Ja, ich war bei der 565. Sanitätskompanie. Zu Ihren Diensten, Sir!«
»Aus Fort Polk?«
»Stimmt. Kennen Sie das Bataillon?«
»Mein Vater war bei den Pionieren. Bei der 46. Wir haben drei Jahre in Fort Polk gewohnt. Waren Sie vor Ihrer Assistenzzeit im aktiven Dienst?«
»Ich habe für mein Medizinstudium die Ausbildung für Reserveoffiziere absolviert, und nach meinem Praktikum haben sie mich geholt«, antwortete sie. »Zwei Jahre Luftrettung per Helikopter in der Nähe von Kabul. Als ich aus der Army entlassen wurde, war ich Captain.«
Stanton war beeindruckt. Verwundete Soldaten über eine Luftbrücke von der Front zurückzuholen war so ziemlich der gefährlichste Einsatz im Sanitätsdienst.
»Wie viele Fälle von FFI haben Sie schon gesehen?«, fragte Thane, als sich der Lift endlich in Bewegung setzte.
»Sieben«, erwiderte Stanton.
»Und alle Patienten sind gestorben?«
Er nickte ernst. »Sind die Ergebnisse der Gentests schon da?«
»Noch nicht, müssten aber bald kommen. Ich habe inzwischen übrigens herausgefunden, wie der Patient hierhergekommen ist. Die Polizei hat ihn in einem Super 8 Motel ein paar Blocks von hier festgenommen, weil er auf andere Gäste losgegangen ist. Als den Beamten klar wurde, dass der Mann krank ist, haben sie ihn hierher gebracht.«
»Wir können von Glück sagen, dass er nach einer Woche ohne Schlaf nichts Schlimmeres verbrochen hat.«
Schon eine einzige schlaflose Nacht konnte das Wahrnehmungsvermögen so stark beeinträchtigen wie ein Blutalkoholspiegel von 0,1 Promille. Halluzinationen, Delirium und starke Stimmungsschwankungen konnten die Folge sein. Nach mehreren Wochen sich verschlimmernder Insomnie trugen sich die Patienten mit Selbstmordgedanken. Doch die meisten, die Stanton gesehen hatte, starben an völliger psychischer und physischer Erschöpfung.
»Sagen Sie, Dr. Thane, war es eigentlich Ihre Idee, den Amylasespiegel zu messen?«
Der Aufzug hielt im sechsten Stock.
»Ja, wieso?«
»Die meisten Assistenzärzte wären nicht auf die Idee gekommen, FFI auf die Liste der Differentialdiagnosen zu setzen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Heute Morgen war ein Obdachloser in der Notaufnahme, der acht Tüten Bananenchips gefuttert hatte. Er wollte damit seinen Kaliumspiegel in die Höhe treiben, damit wir ihn stationär aufnehmen. Wenn Sie ein bisschen mehr Zeit hier verbringen würden, wäre Ihnen klar, dass wir einfach alles in Betracht ziehen müssen.«
Sie näherten sich dem Nervenzentrum der Station. Stanton bemerkte, dass alle Angehörigen des Personals Thane im Vorbeigehen zulächelten oder zunickten oder zuwinkten. Der Empfangsbereich sah aus, als wäre er seit Jahrzehnten nicht mehr modernisiert worden. Sogar die Computer waren vorsintflutlich. Krankenschwestern und Assistenzärzte kritzelten Notizen in Schnellhefter, deren Farbe schon verblasste. Pflegekräfte beendeten ihre Runde und stapelten die leeren Tabletts aus den Krankenzimmern.
Vor Zimmer 621 war ein Angestellter des Sicherheitsdienstes postiert worden. Der Mann war mittleren Alters, hatte eine dunkle Hautfarbe und einen Bürstenschnitt und trug einen rosaroten Mundschutz, der bis auf die Augen das ganze Gesicht verdeckte.
»Alles in Ordnung da drin, Mariano?«, fragte Thane.
»Ja, im Moment ist er recht ruhig«, antwortete der Mann und klappte sein Kreuzworträtselheft zu. »Ein paar kurze Ausbrüche, sonst nichts.«
»Das ist Mariano«, stellte Thane den Angestellten vor. »Mariano, das ist Dr. Stanton. Er wird uns bei dem Fall unseres unbekannten John Doe behilflich sein.«
Marianos dunkelbraune Augen richteten sich auf Stanton. »Seit er vor drei Tagen eingeliefert wurde, hat er die meiste Zeit wie wild um sich geschlagen und herumgebrüllt. Kann ganz schön laut werden da drin. Wuuh wuuh wuuh, das ist alles, was er von sich gibt.«
»Was sagt er?«, fragte Stanton stirnrunzelnd.
»Wuuh oder wuudsch. So ähnlich hört es sich jedenfalls an. Weiß der Teufel, was das zu bedeuten hat.«
»Ich habe es bei Google eingegeben, aber nichts gefunden, das irgendeinen Sinn ergeben würde, egal, in welcher Sprache«, sagte Thane.
Mariano zog die Gummischlaufen seines Mundschutzes fest hinter die Ohren. »Hey, Doc, Sie sind doch der Experte hier. Kann ich Sie was fragen?«
Stanton streifte Thane mit einem flüchtigen Blick. »Sicher.«
»Das ist doch nicht ansteckend, was der Typ da hat, oder?«
»Nein, machen Sie sich keine Sorgen.« Stanton folgte Thane in das Krankenzimmer.
»Ich glaube, er hat sechs Kinder oder so«, flüsterte Thane, als sie außer Hörweite waren. »Er hat Angst, er könnte etwas von hier mit nach Hause bringen. Ich habe ihn noch nie ohne Mundschutz gesehen.«
Stanton zog einen Mundschutz aus einem Automaten an der Wand und band ihn sich um. »Wir sollten seinem Beispiel folgen«, sagte er und gab Thane ebenfalls eine Maske. »Insomnie schwächt das Immunsystem, wir müssen verhindern, dass unser John Doe mit einer Erkältung oder irgendeinem Erreger infiziert wird, gegen den er keine Abwehrkräfte hat. Der Raum darf nur mit Mundschutz und Handschuhen betreten werden. Sorgen Sie dafür, dass ein entsprechender Hinweis an der Tür angebracht wird.«
Stanton hatte schon schlimmere Krankenzimmer gesehen, allerdings nicht in den Vereinigten Staaten. Zwei Metallbetten, Nachttische mit gesprungener Platte, zwei orangerote Stühle, Vorhänge mit ausgefransten Kanten. Spender mit Handdesinfektionsmittel hingen wackelig an der Wand, die Decke war durch Stockflecken von einem Wasserschaden verfärbt. Der unbekannte John Doe lag in dem Bett, das gleich beim Fenster stand. Er war ungefähr eins fünfundsechzig groß, dünn, mit dunkler Haut und langen schwarzen Haaren, die über seinen Schultern lagen. Elektroden, die mit dünnen Drähten an einen Elektroenzephalographen zur Messung der Hirnströme angeschlossen waren, standen ihm vom Kopf ab. Das Krankenhaushemd klebte ihm am Körper wie Seidenpapier, und er stöhnte leise.