Die Frage, warum die Bäume gerade hier, in diesem begrenzten Gebiet in unmittelbarer Nähe der Grabanlage, wuchsen, war bisher nicht geklärt. So wie Mikroben als Reaktion auf die Gabe von Antibiotika Resistenzen entwickelten, bedingte sich die Entwicklung verschiedener Arten oft gegenseitig: Mäuse zum Beispiel verbesserten über Hunderte Generationen hinweg die Fähigkeit, ihren Jägern zu entkommen, und Schlangen verbesserten die Fähigkeit, ihre Beute aufzuspüren und zu schnappen. Einige Wissenschaftler vertraten daher die These, dass das Prion und die Bäume sich über Jahrhunderte hinweg nebeneinander entwickelt hatten, wobei beide durch Mutation immer stärker geworden waren. Und dann hatte Volcy die Grabpyramide entdeckt und das Grab geöffnet. Rundfunkjournalisten sprachen daher gern von einem »evolutionären Wettrüsten«.
Die 2012er und andere Weltuntergangspropheten nannten es freilich Schicksal.
Stanton hatte keinen Namen für die Ereignisse. Ihm war nur eines wichtig gewesen – die Welt der Wissenschaft davon zu überzeugen, wie VFI wirklich heißen sollte, nämlich Thane’sche Krankheit.
Nach einem besonders mörderischen Tag Ende Juni erteilte er seinem Team aus überwiegend guatemaltekischen Ärzten noch einige Anweisungen in gebrochenem Spanisch und stapfte dann zu seinem Zelt im Schatten der Zwillingspyramiden und von Jaguar Imix’ Palast. Der Regen hatte seine Kleidung völlig durchnässt, und seine Stiefel waren schwer vom Schlamm. Das Leben im Dschungel war hart, und er vermisste das Meer. Aber allmählich gewöhnte er sich an die Hitze und an die hohe Luftfeuchtigkeit, und nach einem langen Arbeitstag in den Ruinen zu sitzen und ein kaltes Bier zu trinken war ein wunderbares Gefühl.
Als Stanton sich umgezogen hatte, ging er in den Wohnbereich des Zeltes hinüber, wo sich zwischen Naturwissenschaftlern und Archäologen eine lebhafte Diskussion entsponnen hatte über die beste Methode, die Gräber zu öffnen. Stanton riss eine Dose Bier auf, zog seinen Laptop hervor und stellte über Satellit eine Internetverbindung her.
Er hatte einige Hundert E-Mails bekommen, die er hastig überflog. Es war auch eine von Monster dabei: Er und seine Electric Lady hatten ihre Sammlung von Tieren mit zwei Köpfen wieder eingefangen und bis zur Wiedereröffnung der Freakshow in Stantons Haus untergebracht. Stanton scrollte weiter durch die Mails und stieß auf eine von Nina – ein Foto von Dogma auf der Plan A, aufgenommen irgendwo im Golf von Mexiko. Falls sie an Land gehen würde, werde man auch sie mit Interviewanfragen überschwemmen, hatte Stanton sie gewarnt. Doch sie hatte nur gelacht und gemeint, sie habe Besseres zu tun, als ein Loblied auf ihren Exmann zu singen. Sie schickte ihm jede Woche ein Foto von dort, wo sie und der Hund sich gerade aufhielten.
»Sitzt du etwa schon wieder am Computer? Die Technologie ist tot. Noch nie was davon gehört? Timewave Zero und so weiter und so fort.«
Stanton wandte sich zu der Stimme um, die mit weichem englischem Akzent sprach. Alan Davies schälte sich aus seiner Safarijacke und legte sie so sorgsam über einen Stuhl, als wäre es das Kleidungsstück, das Stanley getragen hatte, als er Livingstone fand. Sein weißes Hemd war schweißnass, seine Haare kräuselten sich. Die extreme Luftfeuchtigkeit bekam dem Londoner gar nicht, und es verging kein Tag, an dem er es Stanton nicht unter die Nase rieb.
»Ich fass’ es nicht, dass du diese erbärmliche Bierplörre trinkst.« Davies ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Jetzt ein großes Adnams Broadside! Ich würde alles dafür geben!«
»Es sind bloß fünfzig Stunden Fahrt durch den Dschungel und vier Maschinen bis nach London.«
»Du würdest es hier draußen doch keinen Tag ohne mich aushalten.«
Während Davies eine Flasche Wein öffnete und sich ein Glas einschenkte, schickte Stanton Nina eine kurze Antwort und warf dann einen Blick auf die Nachrichtenwebsites. Sechs Monate waren seit Ausbruch der Seuche vergangen, und im Grunde waren es immer die gleichen Artikel, die täglich über die Krankheit veröffentlicht wurden, ein Aufguss, in dem nichts wirklich Neues mehr stand. Als er dieses Mal auf die Website der Los Angeles Times klickte, klappte ihm jedoch fast der Unterkiefer herunter. »Ach du Scheiße!«
»Was ist?«, fragte Davies.
Stanton drückte auf die Taste mit dem Druckersymbol, sprang auf und schnappte sich die ausgedruckten Seiten. »Hast du das gesehen?«
Davies stand auf und beugte sich über den Monitor. »Weiß sie es schon?«
***
Die Guatemalteken hatten mit Bulldozern eine Schneise von der Ruinenstätte zu den größeren Straßen geschlagen, breit genug, damit Vorräte und Ausrüstung mit Lastwagen herangeschafft werden konnten. Rings um Kanuataba waren Sicherheitskräfte postiert. Als sie Stanton in seinem vom Gesundheitsministerium gestellten Land Rover durchgewinkt hatten, befand er sich mitten in dem Rummel, der ringsum herrschte. Hunderte Menschen hatten sich auf dem Gelände hinter dem Sperrgürtel in Zelten, Trucks und Wohnmobilen niedergelassen. Eine Zeit lang war es ihnen gelungen, die genaue Lage der Ruinenstätte geheim zu halten, aber jetzt parkten Dutzende Fahrzeuge von Fernsehteams am Straßenrand, und Hubschrauber kreisten unentwegt über der versunkenen Stadt und übertrugen Luftaufnahmen in die ganze Welt. Doch nicht nur Medienleute hatten sich hier eingefunden: Die Gegend war eine Art religiöser Außenposten geworden, eine Pilgerstätte für die 2012er.
Stanton fuhr an einem Meer aus Zelten vorbei, in denen Männer, Frauen und Kinder aller Hautfarben, Altersgruppen und Nationalitäten wohnten, verbunden durch ihren sonderbaren heterogenen Glauben. Es hatte ihrer Sache nicht geschadet, dass die Welt nicht vollständig zerstört worden war.
Im Gegenteiclass="underline" Die Ereignisse in den Tagen vor dem 21. Dezember und die Entdeckung eines Heilmittels ausgerechnet in einer Ruinenstätte der Maya hatte eine Welle der Begeisterung ausgelöst für alles, was mit deren Kultur zu tun hatte. Mehr als ein Drittel der gesamten amerikanischen Bevölkerung glaubte, dass der Ausbruch der Prionenkrankheit unmittelbar vor Ende der Langen Zählung kein Zufall gewesen war. In L.A. strömten Tausende in die Versammlungen der Fraternidad-Kirche, und vor allem auf dem Land, in Gemeinden, die von Stadtflüchtlingen gegründet worden waren, fanden Vegetarier und Gruppen wie jene, die an die Rückkehr Christi glaubten oder die einen »spirituellen Mayanismus« propagierten, immer mehr Anhänger. Sie vertraten die Ansicht, dass Prionenerkrankungen, von VFI bis zum Rinderwahnsinn, nur die extremsten Folgen von manipulativen Eingriffen in die Natur seien.
Zwei Stunden später kam Stanton in Kiaqix an. Da der Name des Dorfes untrennbar mit dem Infektionsherd und dem ersten Infizierten verknüpft war, machten sich nur sehr wenige Schaulustige auf den Weg dorthin. Die überlebenden Dorfbewohner hatten gemeinsam mit engagierten Mitgliedern einer Hilfsorganisation sowie mittels Spenden aus aller Welt den Wiederaufbau des größtenteils zerstörten Dorfes begonnen. Aber wie alles im Dschungel ging die Arbeit nur langsam und zäh voran.
Wie alle Krankenhäuser in Los Angeles war auch das kleine Dschungelkrankenhaus von einem aus den USA angereisten Team dem Erdboden gleichgemacht und an seiner Stelle ein neues, provisorisches Hospital errichtet worden. Stanton parkte den Landrover vor dem Eingang und lief hinein. Im Vorbeigehen winkte er bekannten Gesichtern zu. Einige waren Mitglieder der Fraternidad, die ihre Hilfe beim Wiederaufbau angeboten hatten. Mittlerweile lebten fast vierhundert Menschen im Dorf, und alle waren in irgendeiner Form an den Arbeiten beteiligt.
Auf der Kinderstation im hinteren Teil des Gebäudes kümmerte sich Initia um die Kleinkinder, die ihre Eltern durch die Krankheit verloren hatten. Die meisten lagen in Hängematten, aber für einige waren auch Wiegen aus Holz und Stroh gebastelt worden.