»Jasmächá, Initia«, grüßte Stanton.
»Hallo, Gabe«, antwortete Initia, die inzwischen ein paar Brocken Englisch sprach.
Stanton untersuchte die Augen der Kinder mit dem Ophthalmoskop, das er immer bei sich trug. Die Jüngsten waren jetzt sechs Monate alt, und ihre Sehnerven würden bald vollständig ausgebildet sein, deshalb achtete er sehr genau darauf, ob sie Symptome der Thane’schen Krankheit zeigten.
»Willkommen zurück, Doktor.«
Stanton drehte sich um. Ha’ana Manu stand in der Tür, den acht Monate alten Garuno auf dem Arm. Der Kleine schrie wie am Spieß.
»Wann sagst du endlich Gabe zu mir?«
»Du hast doch nicht vier Jahre Medizin studiert, damit die Leute dich Gabe nennen«, versetzte sie.
Stanton deutete mit dem Kinn auf den Jungen auf ihrem Arm. »Eine Dosis alle vier Stunden, nicht wahr?«
Ha’ana nickte. »So, wie du es angeordnet hast. Keine Sorge.«
»Entschuldige. Weißt du, wo ich sie finde?«
***
Chel kauerte unter dem A-förmigen Gebälk eines neuen Hauses im östlichen Teil des Dorfes, wo sie sich gemeinsam mit vier Fraternidad-Mitgliedern anschickte, einen weiteren Stamm aufzurichten. Sie wollte gerade anfangen, bis drei zu zählen, als sie ein Wimmern hörte.
»Moment, ich bin gleich wieder da!« Sie lief zu dem Korbwagen im Schatten einer Zeder. Sama, Volcys inzwischen fast sieben Monate alte Tochter, schaute sie aus großen, wachen Augen an.
»Chel, schau mal, was ich gefunden habe!«
Als sie sich umdrehte, sah sie ihre Mutter und Stanton.
Ha’ana hatte wochenlang abgestritten, dass sie zu den Aufständischen gehört hatte oder dass sie diejenige war, die die angeblich aus dem Gefängnis geschickten Briefe geschrieben hatte. Selbst jetzt behauptete sie immer noch, sie und Chels Vater hätten die Briefe gemeinsam verfasst. Aber immerhin war es Chel gelungen, sie zu überreden, mit ihr nach Kiaqix zu kommen. Ha’ana beklagte sich zwar, weil es hier weder einen Fernseher noch einen richtigen Herd gab, und erklärte, sie wolle so bald wie möglich zurück in die USA. Aber Chel wusste, dass sie so lange hierbleiben würde, wie ihre Tochter hierblieb.
Stanton ging zu ihr und küsste sie. Seit Januar hatten sie ein oder zwei Mal die Woche immer eine Ausrede gefunden, um sich zu sehen, und schon nach kurzer Zeit hatten sie angefangen, über eine gemeinsame Zukunft zu reden. Nachdem sie beide vollständig rehabilitiert worden waren, waren sie als Hauptvortragsredner zu Symposien überall auf der Welt eingeladen und mit Angeboten für Professuren an verschiedenen Universitäten überhäuft worden. Dass sie auf eigene Faust nach Guatemala gefahren und einen Wirkstoff gegen die Thane’sche Krankheit entdeckt hatten, hatte den Leiter des CDC gewaltig unter Druck gesetzt. Schließlich war Kanuth von seinem Posten zurückgetreten. Neue Direktorin des Seuchenzentrums war seine bisherige Stellvertreterin Emily Cavanagh, doch es ging das Gerücht, dass der Präsident der USA Stanton den Posten anbieten wollte. Er würde ablehnen, und Chel wusste, dass das zum großen Teil an ihr lag. Sie hatte nicht vor, Guatemala in absehbarer Zeit zu verlassen, und falls sie eines Tages in die Staaten zurückkehren sollten, dann nur gemeinsam.
Stanton streckte Sama seine Hand hin, und das kleine Mädchen strahlte. Chel ließ sie praktisch nie aus den Augen. Sie und Stanton hatten viele Abende in ihrem Haus aus Holz und Stroh gesessen und die Kleine mit Tortillabröckchen gefüttert, bis sie irgendwann eingeschlafen war. Dann hatten sie die kostbaren Stunden zu zweit voll ausgekostet.
»Ich dachte, du kommst erst nächste Woche«, sagte Chel. »Alles in Ordnung?« Sie sah ihn fragend an.
Stanton zog den ausgedruckten Zeitungsartikel aus seiner Hemdtasche und gab ihn ihr wortlos.
2012er-Gruppe bricht ihr Schweigen
Dienstag, 22. Juni 2013, 9 Uhr 52
Das FBI hat bestätigt, dass ein Brief, der vor zwei Tagen bei der Los Angeles Times einging, im südlichen Hochland von Guatemala abgeschickt worden ist. Das Schreiben wurde höchstwahrscheinlich von einem Mitglied der sektenähnlichen 2012er-Gruppe verfasst, deren Anführer Colton Shetter war. Wie die Polizei von Guatemala inzwischen bestätigte, ist Shetter tot.
Dem vierseitigen Schreiben zufolge wurde Shetter von der Gruppe, deren Gründer er war, wegen seines brutalen Vorgehens im Dezember 2012 im Getty Museum angeklagt. Damals war Rolando Chacon, ein Mitarbeiter des Forschungsinstituts, ums Leben gekommen. Der Prozess endete mit Shetters Ausschluss aus der Gruppe. Als Shetter daraufhin seine Führungsposition mit Waffengewalt zu verteidigen versuchte, kam es zu einer Auseinandersetzung mit anderen Mitgliedern der Gruppe, bei der Shetter den Tod fand. Aufgrund von Hinweisen in dem genannten Schreiben fanden die guatemaltekischen Behörden Shetters Leiche unweit des Izabal-Sees, einem der größten Seen Guatemalas. Es handelte sich offenbar um eine Art Ritualmord, vergleichbar den Menschenopfern der Maya des Altertums, da dem Toten das Herz und alle anderen Organe herausgeschnitten wurden.
Der derzeitige Aufenthaltsort der 2012er-Gruppe ist nicht bekannt, aber es gibt Hinweise darauf, dass Dr. Victor Granning der neue Anführer der Gruppe ist. Granning beabsichtigt anscheinend, den »Kannibalismus-Kodex« dem Dorf Kiaqix, wo die Bilderhandschrift entstanden sein soll, zurückzugeben. Viele Einwohner von Kiaqix unweit der jüngst entdeckten Ruinenstätte Kanuataba starben an der Thane’schen Krankheit, und Granning ist der Auffassung, dass, wenn die Handschrift an ihrem Entstehungsort ausgestellt würde, dies den Tourismus in der Gegend beleben und damit den indígenas die dringend benötigte finanzielle Unterstützung bringen wird.
Nach Granning, einst Professor an der UCLA und umstrittene Symbolfigur der 2012er, wird in Zusammenhang mit dem Überfall im Getty Museum immer noch gefahndet. Granning, der dem Schreiben zufolge in der Handschrift auf eine bedeutende Entdeckung gestoßen ist, wünscht sich nicht zuletzt deshalb, dass das Buch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, damit »Millionen neue Anhänger der Bewegung es sehen können«. Er behauptet, einen schwer wiegenden Fehler bei der Berechnung des Endes der Langen Zählung entdeckt zu haben. Das korrekte Datum für das Ende des dreizehnten Zyklus des Kalenders ist seiner Meinung nach der 28. November 2020.
Chel ließ den Ausdruck sinken. Von seinem Versteck irgendwo in den Tiefen dieses Regenwalds aus bemühte sich Victor um Wiedergutmachung. Obwohl er untergetaucht war, war er für die 2012er so etwas wie eine mythische Gestalt geworden. Viele Anhänger der neu entstandenen Randgruppen betrachteten seine technologiefeindlichen und Städte verdammenden Schriften als prophetisch.
»Er will dir den Kodex zurückgeben«, sagte Stanton.
Chel antwortete nicht. Es gab keine einfachen Antworten auf die Ereignisse, auch nicht auf die Frage, wieso das Vermächtnis ihres Volkes ausgerechnet in ihre Hände gelangt war. Auch wenn Victor an einen Fehler bei der Berechnung des Datums glaubte – vielleicht hatten sich seine Voraussagen für 2012 ja doch erfüllt, zu einem Teil zumindest, sodass sie jetzt in der Welt lebten, von der er immer geträumt hatte.
Sama lachte leise, und Chel sah in die Augen ihres kleinen Mädchens.
Es spielte keine Rolle mehr.
Chel war zu Hause, dort, wo sie hingehörte, umgeben von den Menschen, die sie liebte.
Als Ha’ana den ausgedruckten Artikel gelesen hatte, zerknüllte sie ihn und warf ihn weg. »Komm zu Oma, mein Schatz«, sagte sie und nahm Sama aus dem Korbwagen. »Wir haben Wichtigeres zu tun, nicht wahr?«
ANMERKUNG DES AUTORS
Im Laufe meines Medizinstudiums machte ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit Prionen. Diese winzigen Proteinmoleküle, die die Wissenschaft seit 50 Jahren in Erstaunen versetzt hatten, faszinierten auch mich. Sie erfüllten im Gehirn keine erkennbare Funktion, verstießen gegen den wichtigsten Satz der Molekularbiologie, der besagte, dass Fortpflanzung nur mittels DNA oder RNA möglich war, und verursachten unheilbare Krankheiten wie BSE.