Die beiden Ärzte beobachteten, wie der Patient sich unruhig hin und her warf. Stanton fielen die Augenbewegungen auf, die seltsam abgehackte Atmung und das unkontrollierte Muskelzucken in den Händen. Stanton hatte in Österreich einmal eine an FFI erkrankte Frau behandelt. Man hatte sie ans Bett fesseln müssen, so heftig war ihr Tremor gewesen. Hilflos mitansehen zu müssen, wie ihre Mutter sich quälte, und gleichzeitig zu wissen, dass sie eines Tages möglicherweise das gleiche Schicksal ereilen würde, hatte die Kinder der Frau ungeheuer belastet. Es war eine niederschmetternde Erfahrung für Stanton gewesen.
Thane bückte sich und schüttelte John Does Kissen auf. »Wie lange kann man ohne Schlaf überleben?«, fragte sie.
»Bei totaler Insomnie maximal zwanzig Tage«, antwortete Stanton.
Selbst die Ärzte wussten so gut wie nichts über das Phänomen Schlaf. In vier Jahren Ausbildungszeit zum Mediziner wurde diesem Thema nicht einmal ein ganzer Tag gewidmet. Was Stanton darüber wusste, hatte er durch seine FFI-Fälle gelernt. Bis jetzt war noch nicht einmal klar, warum Menschen und andere Lebewesen überhaupt Schlaf brauchten: Funktion und Bedeutung des Schlafs waren so rätselhaft wie die Existenz der Prionen. Einige Fachleute glaubten, Schlaf diene der Erholung des Gehirns, trage zur Wundheilung bei und unterstütze den Stoffwechsel. Andere wiederum vertraten die Auffassung, Schlafen schütze Tiere durch den Rückzug in eine sichere Umgebung vor nächtlichen Gefahren und sei eine Methode, um Energie zu sparen. Aber noch niemand hatte eine Erklärung dafür gefunden, warum der extreme Schlafmangel Stantons FFI-Patienten tötete.
Plötzlich riss John Doe seine blutunterlaufenen Augen auf und stöhnte laut: »Wuuh wuuh wuuh!«
Stanton studierte die Hirnaktivität des Patienten auf dem Überwachungsmonitor wie ein Musiker, der die Noten eines Stückes betrachtet, das er schon unzählige Male gespielt hat. Der normale Schlaf ließ sich in vier Phasen unterteilen, die im Abstand von jeweils etwa neunzig Minuten aufeinanderfolgen und an charakteristischen Hirnstromkurven zu erkennen sind, die hier jedoch wie erwartet vollständig fehlten. Kein Non-REM-Schlaf, kein REM, gar nichts. Das Gerät bestätigte, was Stanton bereits intuitiv und aus Erfahrung wusste: Es handelte sich hier definitiv nicht um eine Methamphetaminabhängigkeit.
»Wuuh wuuh wuuh!«
»Und, was halten Sie davon?«, fragte Thane.
Stanton sah ihr in die Augen. »Ich denke, das könnte der erste Fall von FFI in der Geschichte der Vereinigten Staaten sein.«
Obwohl sie sich in ihrer Diagnose bestätigt sehen konnte, machte Thane kein besonders glückliches Gesicht. »Er wird sterben, oder?«
»Höchstwahrscheinlich.«
»Und wir können nichts für ihn tun?«
Diese Frage hatte Stanton zehn Jahre lang gestellt. Vor der Entdeckung der Prionen waren Wissenschaftler davon ausgegangen, dass lebensmittelbedingte Krankheiten von Bakterien, Viren oder Pilzen herrührten, die ihre DNA oder RNA dann replizierten. Doch Prionen hatten weder das eine noch das andere: Sie bestanden aus reinem Eiweiß und »vermehrten« sich, indem sie andere, normale Proteine in pathogene umwandelten. Das bedeutete, dass ihnen mit den herkömmlichen Therapien gegen bakterielle oder virale Infektionen nicht beizukommen war. Sie konnten weder durch Antibiotika noch durch antivirale oder sonstige Medikamente bekämpft werden.
»Ich habe wissenschaftliche Beiträge über Pentosan-Polysulfat und das Malariamedikament Quinacrine gelesen«, sagte Thane. »Was ist damit?«
»Quinacrine zerstört die Leber«, erklärte Stanton. »Und Pentosan-Polysulfat kriegen wir nicht ins Gehirn, ohne noch größeren Schaden anzurichten.« Es werde zwar mit verschiedenen Therapien experimentiert, fügte er hinzu, aber noch sei keine für den Versuch am Menschen geeignet und keine von der staatlichen Gesundheitsbehörde FDA zugelassen.
Aber sie konnten es John Doe immerhin so angenehm wie möglich machen, bevor das Unausweichliche eintrat. »Wo befindet sich der Temperaturregler?«, fragte Stanton.
»Die Temperaturen werden zentral über eine Anlage unten im Keller geregelt«, antwortete Thane.
Stanton sah sich prüfend um. Dann trat er ans Fenster, riss die Vorhänge zu, damit kein Licht mehr von draußen hereinfiel, und begann, Möbelstücke zu verrücken. »Rufen Sie unten an, sagen Sie ihnen, sie sollen die Klimaanlage für diesen Stock auf die höchste Stufe drehen. Wir müssen die Temperatur im Zimmer so weit wie möglich senken.«
»Dann erfrieren die anderen Patient hier oben.«
»Wozu gibt’s Decken? Außerdem brauchen wir frische Bettwäsche und Hemden für ihn. Er wird im Nu alles nass schwitzen; sagen Sie den Schwestern, dass sie seine Sachen jede Stunde wechseln sollen.«
Nachdem Thane hinausgeeilt war, löschte Stanton überall das Licht und schloss die Tür. Dann warf er ein Handtuch über den EEG-Monitor, um auch diese Lichtquelle auszuschalten.
Der Thalamus – eine winzige Ansammlung von Neuronen im Zwischenhirn – entschied, welche sensorischen Eindrücke ins Bewusstsein gelangten, und diente gleichsam als »Schlafschutzschild« des Körpers. Wenn es Zeit war zu schlafen, sorgte er dafür, dass Signale von der Außenwelt, wie Geräusche und Licht, abgeblockt wurden. Stanton hatte bei jedem FFI-Patienten, den er behandelt hatte, die katastrophalen Auswirkungen eines nicht mehr funktionsfähigen Thalamus erlebt. Der Kranke reagierte hochgradig empfindlich auf Licht und Geräusche, weil er praktisch einem sensorischen »Dauerbeschuss« ausgesetzt war. Stanton hatte versucht, Clara, seiner österreichischen Patientin, wenigstens ein bisschen Linderung zu verschaffen, indem er ihr Zimmer in eine Art Höhle verwandelt hatte.
Er berührte John Doe sanft an der Schulter. »Habla Español?«
»Tinimit wuuh, tinimit wuuh.«
Stanton gab es auf. Ohne Dolmetscher würden sie nicht weiterkommen. Er untersuchte den Patienten. John Does Puls raste, sein Nervensystem arbeitete auf Hochtouren. Er atmete keuchend durch den Mund, seine Zunge war geschwollen, sein Verdauungsapparat hatte die Arbeit eingestellt. Weitere Hinweise auf FFI.
Thane kam zurück. Sie zog sich einen frischen Mundschutz über. In ihrer behandschuhten Hand hielt sie einen Ausdruck, den sie Stanton gab. »Der Gentest ist da.«
Sie hatten John Does DNA untersucht und besonderes Augenmerk auf Chromosom 20 gelegt, weil die für FFI charakteristische Mutation des Prionen-Proteins immer auf Chromosom 20 auftrat. Das wäre der endgültige Beweis.
Stanton überflog die Ergebnisse. Er konnte nicht fassen, was er da sah: eine völlig normale DNA-Sequenz. Keinerlei Auffälligkeiten. »Das kann nicht sein, da muss im Labor irgendwas schiefgegangen sein«, sagte er mit einem flüchtigen Blick auf Thane. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie das Labor in einem Krankenhaus wie diesem wohl aussah und wie oft es zu Verwechslungen kommen musste. »Sie sollen die Tests wiederholen, sagen Sie ihnen das.«
»Wieso?«
Er gab ihr den Ausdruck zurück. »Weil keine Mutation vorliegt.«
»Sie haben die Tests zwei Mal durchlaufen lassen. Sie wussten, wie wichtig es ist.« Thane studierte die Ergebnisse. »Ich kenne die Genetikerin, sie arbeitet äußerst sorgfältig. So was würde sie niemals vermasseln.«
Stanton fragte sich, ob er das klinische Bild falsch gedeutet hatte. Wie war es möglich, dass keine Mutation vorlag? In jedem früheren Fall von FFI war eine DNA-Mutation nachgewiesen worden, was zu einer Umwandlung der Prionen im Thalamus und schließlich zu den typischen Symptomen geführt hatte.
»Könnte es etwas anderes sein als FFI?«, fragte Thane.
John Doe schlug wieder die Augen auf, und Stanton konnte einen flüchtigen Blick auf seine höchstens stecknadelkopfgroßen Pupillen erhaschen. Er war sich seiner Sache so sicher gewesen. Alle Symptome sprachen für FFI, auch wenn die Krankheit ungewöhnlich schnell fortschritt.