X.
Wir befanden uns auf dem Damme meines Teiches. Ich sah gerade vor mir, durch die spitzigen Blätter der Weidenbüsche hindurch, die breite Wasserfläche, auf der hie und da noch einzelne flaumige Nebelfetzen lagen. Rechts lag im matten Glanz das Kornfeld; links erhoben sich die schlanken, unbeweglichen und noch feuchten Bäume meines Gartens... Der Morgen hatte sie bereits mit seinem Atem berührt. Am reinen grauen Himmel zogen sich gleich Rauchstreifen einige schräge Wölkchen hin; im ersten schwachen Widerscheine des Morgenrots, der Gott weiß von wo auf sie fiel, schienen sie gelblich: das Auge konnte am weißen Horizonte noch nirgends die Stelle entdecken, wo die Sonne aufgehen sollte. Die Sterne erloschen einer nach dem andern; nichts regte sich noch, obgleich in der zauberhaften Stille des Morgens alles Leben zu erwachen begann.
»Der Morgen! Es ist der Morgen!« rief mir Ellis dicht ins Ohr. »Lebe wohl! Bis morgen!«
Ich wandte mich um... Sie hob sich leicht von der Erde empor, schwebte an mir vorüber – und plötzlich hob sie beide Arme über den Kopf. Dieser Kopf, diese Arme und Schultern nahmen augenblicklieh einen warmen rosigen Ton an; in den dunklen Augen sprühten lebendige Funken; ein Lächeln geheimer Wonne bewegte die rot gewordenen Lippen... Vor mir war plötzlich ein reizendes Weib erstanden... Doch im gleichen Augenblick sank sie, wie in Ohnmacht fallend, zurück und zerfloß wie Dunst.
Ich stand regungslos da.
Als ich zur Besinnung kam und um mich blickte, war es mir, als ob der rosige Ton, in dem soeben das Gesicht meiner Vision erglühte, noch immer nicht verschwunden sei, sondern die ganze Luft erfülle und mich von allen Seiten umgebe... Das war das Morgenrot. Plötzlich fühlte ich mich ungewöhnlich matt; ich begab mich nach Hause. Als ich am Geflügelhof vorbeiging, hörte ich das erste Morgengeschnatter der jungen Gänse (sie werden vor jedem anderen Geflügel wach); längs des Daches saßen viele Dohlen, die sich geschäftig und stumm putzten; sie hoben sich scharf vom milchweißen Himmel ab. Zuweilen flogen sie alle zugleich auf und setzten sich nach kurzem Fluge wieder eine neben der anderen ohne Geschrei auf das Dach... Aus dem nahen Wäldchen ließ sich zweimal der erste heisere Morgenschrei des Auerhahnes vernehmen, der eben in das taufeuchte, von Beeren durchwachsene Gras herabgeflogen war... Mit leisem Beben in allen Gliedern erreichte ich mein Bett und versank sofort in tiefen Schlaf.
XI.
Als ich mich in der nächsten Nacht der alten Eiche näherte, schwebte mir Ellis wie einem Bekannten entgegen. Ich fürchtete sie nicht mehr, war über ihr Erscheinen beinahe erfreut; ich versuchte nicht einmal darüber nachzudenken, was mit mir vorging; ich hatte nur den einen Wunsch, irgendwohin, recht weit, nach merkwürdigen Orten, zu fliegen.
Ellis umschlang mich wieder mit ihrem Arm, und wir flogen wieder dahin...
»Wollen wir doch nach Italien fliegen,« flüsterte ich ihr ins Ohr.
»Wohin du willst, Geliebter,« antwortete sie feierlich und ruhig; ruhig und feierlich wandte sie mir ihr Gesicht zu. Es erschien mir etwas weniger durchsichtig als gestern, frauenhafter und ernster; es erinnerte mich an jenes herrliche Wesen, das mir beim Morgenrot entschwebt war.
»Diese Nacht ist eine große Nacht,« sagte Ellis. »Sie kommt sehr selten, nur wenn siebenmal dreizehn...«
Hier entgingen mir einige Worte.
»In dieser Nacht kann man Dinge sehen, die in den anderen Nächten verborgen sind.«
»Ellis!« flehte ich sie an, »wer bist du denn? Sage es mir endlich!«
Sie hob schweigend ihren schlanken weißen Arm.
Am dunklen Himmel, dort, wohin ihr Finger wies, strahlte zwischen kleineren Sternen ein Komet mit rötlichem Schweif.
»Wie soll ich dich verstehen?« begann ich. »Oder ziehst du – wie dieser Komet zwischen den Planeten und Sonnen zieht, zwischen den Menschen... und wem?«
Doch sogleich legte sich Ellis' Hand auf meine Augen... Es war mir, als ob mich ein weißer Nebel aus feuchtem Tal umfinge...
»Nach Italien! Nach Italien!« flüsterte sie. »Diese Nacht ist eine große Nacht!«
XII.
Der Nebel vor meinen Augen verzog sich, und ich erblickte tief unter mir eine unendliche Ebene. Schon an der warmen und milden Luft, die meine Wangen streifte, konnte ich erkennen, daß ich mich nicht in Rußland befand; auch glich die Ebene gar nicht unseren russischen Ebenen. Es war eine große dunkle Fläche, so viel ich erkennen konnte, vollkommen nackt und öde; hie und da glänzten wie kleine Spiegelscherben stehende Gewässer; in der Ferne konnte ich schwach die Umrisse eines unhörbaren und unbeweglichen Meeres sehen. Zwischen breiten schöngeformten Wolken strahlten große Sterne; ein tausendstimmiges, unaufhörliches und dabei doch nicht lautes Trillern erscholl von allen Richtungen – wunderbar war dieses durchdringende und zugleich verschlafene Singen, diese nächtliche Stimme der Wüste...
»Die Pontinischen Sümpfe,« sagte Ellis. »Hörst du die Frösche? Spürst du den Schwefelgeruch?«
»Die Pontinischen Sümpfe...« wiederholte ich, und sofort war ich im Banne dieser majestätischen und schwermütigen Stimmung. »Doch warum hast du mich in dieses traurige verlassene Land gebracht? Bringe mich lieber nach Rom.«
»Rom ist nahe,« antwortete Ellis, »mache dich bereit!«
Wir ließen uns etwas tiefer herab und flogen die alte Römerstraße entlang. Ein Büffel erhob langsam seinen großen zottigen Kopf mit den kurzen Borsten zwischen den zurückgebogenen Hörnern aus dem Morast. Er schielte mit seinen stumpfsinnig bösen Augen und schnaubte schwer mit den feuchten Nüstern, als ob er uns witterte.
»Rom ist nahe,« flüsterte Ellis. »Schau vorwärts, vorwärts...«
Ich erhob die Augen.
Was ist das Schwarze dort am nächtlichen Horizonte? Sind das die hohen Bogen einer kolossalen Brücke? Über welchen Strom wölbt sie sich? Warum ist sie stellenweise durchbrochen? Nein, es ist keine Brücke, es ist ein alter Aquädukt. Rings ist der geheiligte Boden der Campagna, und dort in der Ferne ragen die Berge von Albano, und ihre Gipfel und der graue Rücken des alten Aquädukts schimmern schwach in den Strahlen des aufgehenden Mondes...
Wir schossen plötzlich in die Höhe und hielten in der Luft über einer einsamen Ruine. Niemand hätte sagen können, was sie früher einmal gewesen war: ein Grabmal, ein Palast, ein Turm... Dunkler Efeu umrankte sie von allen Seiten mit seiner erstickenden Gewalt, und unten gähnte wie ein gigantischer Rachen ein halb eingestürztes Gewölbe. Schwerer Kellergeruch wehte mir aus diesem Haufen kleiner, dicht aneinander gefügter Steine entgegen, von denen schon längst die Granitbekleidung abgefallen war.
»Hier,« sagte Ellis und erhob die Hand. »Hier! Sprich laut, dreimal hintereinander den Namen eines großen Römers aus.«
»Und was wird geschehen?«
»Du wirst es sehen.«
Ich dachte nach. »Divus Cajus Julius Caesar!« rief ich plötzlich. »Divus Cajus Julius Caesar!« wiederholte ich gedehnt:–»Caesar!«
XIII.
Der letzte Widerhall meiner Worte war noch nicht verstummt, als ich plötzlich hörte...
Es fällt mir schwer zu sagen, was ich hörte. Anfangs war es ein undeutliches, kaum wahrnehmbares, doch unaufhörlich sich wiederholendes Trompetengeschmetter und Händeklatschen. Es war, als ob irgendwo in weiter Ferne, in einem Abgrund eine zahllose Menschenmenge wogte–sie war in Aufruhr, sie wuchs an, und ihre Rufe klangen kaum hörbar, wie im Traume, wie aus tiefem, bedrückendem, tausendjährigem Schlafe. Die Luft über der Ruine begann sich zu regen und dunkler zu werden... Ich glaubte Schatten zu sehen, Myriaden Schatten, Millionen Umrisse, hier abgerundet wie Helme, dort zugespitzt wie Speere; auf allen diesen Helmen und Speeren sprühten im Mondlichte blaue Funken, – und die ganze Armee, die ganze Masse rückte immer näher und näher heran, immer anwachsend und wie ein Meer tobend... Eine unsagbare Spannung, eine Spannung, stark genug, um die ganze Welt aus den Fugen zu heben, schien diese Menge vorwärts zu treiben, und keine einzige Gestalt trat einzeln hervor... Und plötzlich war es mir, als ob durch die Menge ein Beben ginge, als ob ungeheuere Wogen zurückprallten und sich zerteilten... »Caesar, Caesar venit!« rauschten die Stimmen, gleich den Blättern des Waldes, in den ein plötzlicher Sturm gefahren ist... Ein dumpfer Donnerschlag, – und ein bleiches, ernstes lorbeerbekränztes Haupt mit gesenkten Lidern, das Haupt des Imperators kam langsam hinter der Ruine zum Vorschein...