»Das sind Träume, die dort umherwandeln,« flüsterte mir Ellis zu; »gestern konnte man ihrer viel mehr sehen... Heute fliehen selbst Träume das menschliche Auge. Vorwärts! Vorwärts!«
Wir stiegen höher und flogen weiter. So gleichmäßig und leicht war unser Flug, daß ich den Eindruck hatte, als ob nicht wir uns fortbewegten, sondern alles uns entgegenkäme. Dunkle, wellenförmig geschwungene, bewaldete Berge stiegen vor unseren Blicken auf und kamen immer näher... Da schweben sie schon dicht unter uns vorbei, mit allen ihren Taleinschnitten, Krümmungen, engen Wiesen, mit den Lichtpünktchen schlummernder Dörfer, die in Talgründen bei schnellen Bächen liegen; und vor uns tauchen andere Berge auf und auch sie schweben vorbei... Wir befinden uns im Herzen des Schwarzwaldes.
Immer Berge und Berge... und Wald, schöner, alter, kräftiger Wald. Der Nachthimmel ist helclass="underline" ich kann jede Baumgattung unterscheiden; am schönsten sind die Silbertannen mit ihren schlanken weißen Stämmen. Hie und da am Waldessaume zeigen sich Rehe; sie stehen schlank und scheu auf ihren dünnen Beinen und horchen, die Köpfe anmutig zur Seite gewendet, die großen röhrenförmigen Ohren gespitzt. Die traurige und blinde Ruine eines Turmes streckt vom Gipfel eines nackten Felsens ihre halbverfallenen Zinnen aus; über den alten, vergessenen Mauern leuchtet friedlich ein goldenes Sternchen. Aus einem kleinen, fast schwarzen See erhebt sich, wie geheimnisvolle Klage, das Stöhnen kleiner Unken. Zugleich glaube ich andere Töne zu hören, langgezogene wehmütige Töne, wie die einer Äolsharfe. Da ist es also, das Land der Sagen! Der gleiche feine Mondlichtnebel, der mir in Schwetzingen aufgefallen war, liegt auch hier auf allen Dingen, und je weiter sich die Berge auftun, desto dichter wird er. Ich zähle fünf, sechs, zehn verschiedene Abstufungen der Schattenschichten an den Berghängen, und über all diese stumme Mannigfaltigkeit herrscht der stille Mond. Die Luft strömt sanft und leicht. Ich selbst fühle mich so leicht, so ruhig und zugleich traurig.
»Ellis, du liebst gewiß dieses Land?«
»Ich liebe nichts.«
»Wieso? Und mich?«
»Ja... dich!« antwortet sie gleichgültig.
Mir ist es, als ob ihr Arm mich fester als vorher umschlinge.
»Vorwärts! Vorwärts!« sagt Ellis eigentümlich begeistert und zugleich kalt.
»Vorwärts!« wiederhole ich.
XXI.
Starke, helle, trillernde Schreie erklangen plötzlich über uns und wiederholten sich gleich darauf etwas weiter vor uns.
»Es sind verspätete Kraniche, die zu euch nach dem Norden ziehen,« sagte Ellis, »wollen wir uns ihnen anschließen?«
»Ja, ja! Trage mich zu ihnen hinauf.«
Wir schossen in die Höhe und befanden uns im nächsten Augenblick neben dem Kranichzuge.
Große, schöne Vögel (dreizehn an der Zahl) zogen in einem Dreieck, stark und nur selten die gewölbten Flügel schwingend. Kopf und Beine straff ausgestreckt, die Brust gewölbt, flogen sie unaufhaltsam und so rasch, daß die Luft rund herum pfiff. Es war so seltsam, in einer solchen Höhe, in einer solchen Entfernung von jedem anderen Leben dieses starke, glühende Leben, diesen unbeugsamen Willen zu sehen. Unaufhörlich den Raum besiegend und zerteilend, wechselten die Kraniche ab und zu kurze Schreie mit ihrem Gefährten an der Spitze des Zuges, und es lag etwas Stolzes und Wichtiges, etwas unerschütterlich Selbstbewußtes in diesen lauten Schreien, in dieser luftigen Unterredung. »Wir werden unser Ziel erreichen, und wenn es auch nicht so leicht ist,« riefen sie sich, gleichsam einander aufmunternd, zu. Und da fiel mir ein, daß es in Rußland – ach, was sage ich Rußland! –, in der ganzen Welt nur wenige Menschen gibt, die man mit diesen Vögeln vergleichen könnte.
»Nun fliegen wir nach Rußland,« sagte Ellis. Ich habe schon früher die Bemerkung gemacht, daß sie fast immer meine Gedanken erriet. »Willst du umkehren?«
»Umkehren?... oder nein? Ich bin schon in Paris gewesen, nun trage mich nach Petersburg.«
»Jetzt gleich?«
»Sofort... Bedecke mir aber den Kopf mit deinem Ärmel, sonst wird mir übel.«
Ellis hob den Arm... Doch bevor mich noch der Nebel umfing, spürte ich auf meinen Lippen die schnelle Berührung jenes weichen, stumpfen Stachels...
XXII.
»A–a–achtung!« schallte in meinen Ohren ein gedehnter Ruf. »A–a–a–achtung!« hallte es wie verzweifelt aus der Ferne zurück. »A–a–a–achtung«! erstarb es irgendwo am Ende der Welt. Ich sah hinab. Eine hohe vergoldete Spitze fiel mir in die Augen: ich erkannte die Peters-Paulsfestung.
Bleiche nordische Nacht! Ist es denn überhaupt eine Nacht? Ist es nicht eher ein bleicher kranker Tag? Ich habe die Petersburger Nächte niemals gemocht; diesmal wurde mir sogar ganz unheimlich zumute! Ellis' Gestalt verschwand vollständig, löste sich auf wie der Morgennebel in der Julisonne, und ich sah deutlich meinen Körper schwer und einsam in der Höhe der Alexandersäule in der Luft hängen. Das ist also Petersburg! Ja, das ist es wirklich. Diese breiten, öden, grauen Straßen, diese grauweißen, gelbgrauen, lilagrauen getünchten und abgebröckelten Häuser mit den eingefallenen Fenstern, grellen Ladenschildern, eisernen Wetterdächern über den Eingangstüren und den elenden Gemüseläden; diese Giebel, Aufschriften, Schilderhäuschen und Futterkasten; die goldene, an eine Kutschermütze erinnernde Kuppel der Isaakskirche; die überflüssige bunte Börse; die Granitmauern der Zitadelle und das aufgebrochene Holzpflaster; diese Barken mit Heu und Brennholz; dieser Geruch von Staub, Sauerkohl, Bast und Pferdestall; diese versteinerten Hausknechte in Schafspelzen vor den Haustoren; diese wie im Todesschlaf zusammengekrümmten Kutscher auf den schäbigen Droschken, – ja, das ist es, unser Nordisches Palmyra. Alles ist hell, alles ist unheimlich klar und deutlich zu sehen, und alles schläft einen traurigen Schlaf, sich als seltsamer Haufen in der dämmerigen, durchsichtigen Luft abzeichnend. Die Abendröte – eine schwindsüchtige Röte – ist noch nicht vergangen, und wird auch vor dem Morgen nicht vom weißen, sternlosen Himmel weichen; ihr Abglanz liegt auf der seidenschimmernden Fläche der Newa, die sich kaum bewegt und leise murmelt, ihre kalten, blauen Fluten vorwärts rollend...
»Wollen wir doch von hier fortfliegen,« flehte Ellis.
Und ohne meine Antwort abzuwarten, trug sie mich über die Newa, über den Schloßplatz nach der Litejnaja. Unten erschollen Schritte und Stimmen: über die Straße kam ein Haufen junger Männer mit abgelebten Gesichtern; sie unterhielten sich von der Tanzstunde. – »Leutnant Stolpakow, Nummer sieben!« rief plötzlich ein verschlafener Soldat, der bei einer kleinen Pyramide verrosteter Kanonenkugeln Wache stand, und etwas weiter sah ich am offenen Fenster eines großen Hauses ein Mädchen in zerknittertem Seidenkleide ohne Ärmel, mit einem Perlennetze auf den Haaren und einer Zigarette im Munde. Sie las sehr andächtig in einem Buche; es war ein Band eines unserer modernsten Juvenale.
»Wollen wir von hier fortfliegen?« sagte ich zu Ellis.
Nach einer Minute zogen unter uns schon die faulenden Tannenwäldchen und Moossümpfe, die Petersburg umgeben, vorbei. Wir flogen gerade nach dem Süden: der Himmel und die Erde und alles wurde immer dunkler. Die kranke Nacht, der kranke Tag, die kranke Stadt – alles blieb hinter uns zurück.
XXIII.
Wir flogen langsamer als gewöhnlich, und ich konnte mit den Augen verfolgen, wie sich vor mir nach und nach, wie im Panorama, die ungeheure, grenzenlose heimatliche Ebene entrollte. Wälder, Sträucher, Felder, Gräben, Flüsse, – etwas seltener Dörfer, Kirchen, und dann wieder Felder und Wälder, Sträucher und Gräben... Mir wurde es traurig zumute, und zugleich empfand ich Gleichgültigkeit und Langeweile. Und dieses Gefühl kam nicht etwa daher, weil es gerade Rußland war, über das ich flog. Nein! Die Erde selbst, diese flache Ebene, die sich unter mir ausbreitete; der ganze Erdball mit seiner vergänglichen, siechen, von Not, Kummer und Krankheiten gedrückten, an die Scholle elenden Staubes geketteten Bevölkerung; diese zerbrechliche, rauhe Kruste, in die der winzige Feuerkern unseres Planeten eingeschlossen ist, mit ihrem Schimmel, den wir hochtrabend Tier- und Pflanzenreich nennen; diese Menschen, winzig wie Fliegen, doch tausendmal nichtiger als die wirklichen Fliegen; ihre aus Kot zusammengeklebten Wohnungen, die verschwindenden Spuren ihres kleinlichen, eintönigen Treibens, ihres lächerlichen Kampfes gegen das Unabwendbare und Unabänderliche, – wie widerte mich das alles plötzlich an! Das Herz drehte sich mir im Leibe um, und mir verging jede Lust, noch länger auf diese nichtssagenden Bilder, auf diese abgeschmackte Ausstellung zu gaffen... Ja, es wurde mir langweilig zumute, ärger als langweilig. Ich empfand nicht einmal Mitleid mit meinen Mitmenschen: alle meine Gefühle waren in einem Gefühl untergegangen, welches ich kaum zu nennen wage: im Ekelgefühl, das ich am stärksten – vor mir selbst empfand.