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IV.

Im Juni belebte sich das Städtchen, in dem ich mit meiner Mutter wohnte, ganz außerordentlich. Zahllose Schiffe liefen im Hafen ein, zahllose neue Gesichter tauchten auf den Straßen auf. Ich liebte es, um diese Zeit auf den Quais, vor den Kaffeehäusern und Gasthöfen herumzuirren, die verschiedenen Matrosen und andere Menschen zu beobachten, die unter leinenen Sonnendächern vor kleinen, weißen Tischen saßen und aus Zinnkrügen Bier tranken.

Als ich so einmal an einem Kaffeehause vorüberging, erblickte ich einen Mann, der sofort meine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Mit einem langen, schwarzen Kittel bekleidet, den Strohhut tief ins Gesicht gedrückt, saß er ganz unbeweglich mit gekreuzten Armen. Dünne, schwarze Locken hingen ihm fast bis an die Nase herab, die schmalen Lippen hielten das Mundstück einer kurzen Pfeife umpreßt. Dieser Mann kam mir so bekannt vor, jeder Zug seines gelben Gesichtes und seine ganze Erscheinung war dermaßen in meinem Gedächtnisse eingeprägt, daß ich nicht umhin konnte, vor ihm stehen zu bleiben und mir die Frage vorzulegen: wer ist er, wo habe ich ihn schon gesehen? Da er wohl meinen unverwandten Blick auf sich ruhen fühlte, richtete er seine schwarzen, stechenden Augen auf mich... Ich schrie unwillkürlich auf...

Dieser Mann war jener Vater, den ich suchte, den ich im Traume gesehen hatte!

Ein Irrtum war ganz ausgeschlossen, – die Ähnlichkeit war zu auffallend. Selbst der langschößige, schwarze Kittel, der seine hageren Glieder umhüllte, erinnerte in seiner Farbe und Form an den Schlafrock, in dem mir mein Vater erschienen war.

»Schlafe ich denn nicht?« fragte ich mich... Nein... Jetzt ist ja Tag, ringsum lärmt die Menge, am blauen Himmel strahlt die Sonne, und vor mir ist kein Gespenst, sondern ein lebendiger Mensch.

Ich trat an ein unbesetztes Tischchen, ließ mir einen Krug Bier und eine Zeitung geben und setzte mich in die Nähe dieses rätselhaften Wesens.

V.

Indem ich die Zeitung in der Höhe meines Gesichtes hielt, fuhr ich fort, den Unbekannten mit den Augen zu verschlingen. – Er saß fast bewegungslos da und hob nur selten seinen gesenkten Kopf. Offenbar erwartete er jemand. Ich sah und sah... Zuweilen schien es mir, das Ganze sei Einbildung, von Ähnlichkeit sei eigentlich keine Spur, ich hätte mich nur von meiner Einbildungskraft täuschen lassen... So oft aber jener eine Bewegung machte, auf dem Stuhle ein wenig hin und herrückte, oder leicht die Hände hob, schrie ich beinahe wieder auf, denn ich erkannte in ihm wieder meinen »nächtlichen« Vater! – Er bemerkte schließlich meine zudringliche Aufmerksamkeit, blickte zuerst erstaunt, dann ärgerlich zu mir herüber und wollte aufstehen, wobei er seinen kleinen Rohrstock, den er an den Tisch gelehnt hatte, fallen ließ. Ich sprang sofort auf, hob ihn auf und reichte ihn ihm. Ich hatte heftiges Herzklopfen.

Er lächelte gezwungen, bedankte sich, näherte sein Gesicht dem meinigen, und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen und halboffenem Munde an; ich hatte auf ihn offenbar einen Eindruck gemacht.

»Sie sind sehr höflich, junger Mann,« sagte er mit trockener, scharfer und näselnder Stimme. »Heutzutage ist das eine Seltenheit. Gestatten Sie mir, Ihnen zu der guten Erziehung, die Sie genossen, zu gratulieren.«

Ich weiß nicht mehr, was ich ihm darauf antwortete; aber bald entspann sich zwischen uns ein Gespräch. Ich erfuhr, daß er ein Landsmann von mir und soeben aus Amerika zurückgekehrt sei, wo er viele Jahre gelebt habe und daß er bald wieder dorthin zurückzukehren gedenke. Er nannte sich Baron... den Namen konnte ich nicht verstehen. Wie mein »nächtlicher Vater,« so schloß auch er jeden Satz mit einem undeutlichen innerlichen Brummen. Er wünschte, meinen Namen zu erfahren... Als er ihn hörte, schien er sehr verwundert; dann fragte er mich, wie lange ich hier in der Stadt wohne und mit wem. Ich sagte, ich wohne bei meiner Mutter.

»Und Ihr Vater?« – »Mein Vater ist lange tot.« Er erkundigte sich nach dem Vornamen meiner Mutter und lachte dabei gezwungen auf; dann entschuldigte er sich und sagte, es sei eine üble amerikanische Angewohnheit, wie er auch sonst ein großer Sonderling sei. Schließlich fragte er mich nach unserer Adresse. Ich gab sie ihm.

VI.

Die Erregung, die sich meiner im Anfange unseres Gespräches bemächtigt hatte, legte sich allmählich; ich fand diese so rasch geschlossene Bekanntschaft etwas eigentümlich, und das war alles. Mir mißfiel das Lächeln, mit dem der Herr Baron seine Fragen stellte; mir mißfiel auch der Ausdruck seiner Augen, wenn er mich mit ihnen gleichsam durchbohrte... In diesen Augen lag etwas Raubgieriges und zugleich Herablassendes... etwas Unheimliches. Diese Augen hatte ich in meinen Träumen nicht gesehen. Seltsam war das Gesicht des Barons! Welk, müde, abgespannt und zugleich jugendlich, unangenehm jugendlich; Auch hatte mein »nächtlicher Vater« nicht jene tiefe Schramme, die bei meinem neuen Bekannten über die Stirne lief und die ich erst dann bemerkte, als ich mich ihm mehr genähert hatte.

Kaum hatte ich dem Baron den Namen der Straße und die Hausnummer unserer Wohnung mitgeteilt, als ein hochgewachsener Mohr, bis an die Augen in einen Mantel gehüllt, von hinten an ihn herantrat und ihm leise auf die Schulter klopfte. Der Baron wandte sich um und sagte: »Aha! Endlich!« Dann nickte er mir mit dem Kopfe zu und begab sich mit dem Mohren ins Innere des Kaffeehauses. Ich blieb allein draußen sitzen; ich wollte das Fortgehen des Barons abwarten, nicht, um ihn wieder anzusprechen, – (ich wußte eigentlich nicht, worüber ich noch mit ihm hätte sprechen können) – sondern um meine ersten Eindrücke nachzuprüfen. – Es verging aber eine halbe Stunde, eine ganze Stunde, – der Baron zeigte sich nicht wieder. – Ich ging ins Kaffeehaus, lief durch alle Räume, fand aber nirgends weder den Baron, noch den Mohren... Die beiden waren wohl durch eine Hintertüre fortgegangen.

Mir schmerzte ein wenig der Kopf; um mich zu erholen, machte ich einen kleinen Spaziergang am Meeresstrande entlang bis zu dem großen Parke, der vor etwa zweihundert Jahren angelegt worden war. Nachdem ich gegen zwei Stunden im Schatten der riesengroßen Eichen und Platanen herumgewandert war, kehrte ich nach Hause zurück.

VII.

Sobald ich in unser Vorzimmer trat, stürzte mir unser Dienstmädchen ganz außer sich entgegen. Ich erriet sofort aus ihrem Gesichtsausdrucke, daß zu Hause während meiner Abwesenheit etwas Schlimmes vorgefallen war. Ich erfuhr auch wirklich, daß vor einer Stunde aus dem Schlafzimmer meiner Mutter ein gellender Schrei erklungen war; das herbeigeeilte Dienstmädchen hatte sie in tiefer Ohnmacht auf dem Boden liegen gefunden. Als meine Mutter zu sich kam, sah sie ganz erschrocken und verstört aus und mußte sich zu Bette legen; sie sprach kein Wort, beantwortete keine Frage, sah sich immer erregt um und zitterte. Das Mädchen schickte den Gärtner nach einem Arzt. Der Arzt kam und verschrieb ihr ein Beruhigungsmittel, doch wollte meine Mutter auch ihm nichts sagen. Der Gärtner behauptete, er hätte einige Augenblicke nach dem Aufschreien meiner Mutter einen unbekannten Mann gesehen, der über die Gartenbeete zum Tor gelaufen sei. (Wir bewohnten ein einstöckiges Haus, dessen Fenster nach einem ziemlich großen Garten gingen). Das Gesicht des Fremden hatte der Gärtner nicht sehen können; er sei aber hager und mit einem niederen Strohhut und einem langschößigen Rock bekleidet gewesen... »Die Kleidung des Barons!« ging es mir sofort durch den Kopf. Der Gärtner konnte ihn nicht einholen, man hatte ihn auch gleich ins Haus gerufen und nach dem Arzte geschickt. Ich ging zu meiner Mutter hinein. Sie lag auf dem Bette, blasser als das Kissen, auf dem ihr Kopf ruhte. Als sie mich erkannt hatte, lächelte sie matt und streckte mir ihre Hand entgegen. Ich setzte mich zu ihr und begann sie auszufragen; anfangs wich sie meinen Fragen aus, zuletzt gestand sie aber, daß sie etwas gesehen hätte, wovor sie so erschrocken wäre. – »Ist hier jemand gewesen?« fragte ich sie. – »Nein,« sagte sie hastig, »es war niemand hier, aber es schien mir... es kam mir vor...« Sie schwieg und bedeckte die Augen mit der Hand. Ich wollte ihr schon sagen, was ich vom Gärtner erfahren hatte, auch über meine Begegnung mit dem Baron wollte ich ihr berichten, aber die Worte erstarben mir, ich weiß nicht warum, auf den Lippen. Ich erlaubte mir jedoch, der Mutter zu bemerken, daß Gespenster am hellen Tage nicht zu erscheinen pflegen... »Laß mich,« flüsterte sie, »laß mich, bitte, quäle mich jetzt nicht. Du wirst es schon einmal erfahren...« Sie schwieg wieder. Ihre Hände waren kalt, der Puls ging schnell und ungleichmäßig. Ich gab ihr die Arznei ein und trat ein wenig zur Seite, um sie nicht zu beunruhigen. Sie blieb den ganzen Tag im Bette. Sie lag still und unbeweglich da, seufzte nur zuweilen tief und öffnete erschrocken die Augen. Wir alle waren ganz ratlos.