Vol’jin bemühte sich, mit der Zunge über seine Lippen zu fahren, aber selbst das schien seine Kräfte zu erschöpfen. Zwei’nhalb Wochen, und das ist alles, wozu ich imstande bin. Bwonsamdi hat mich losgelass’n, aber ich genese nicht so, wie ich sollte.
Chen beugte sich wieder vor, und seine Stimme wurde leiser. „Meister Taran Zhu führt die Shado-Pan. Er ist einverstanden, dass du hierbleibst und dich erholst. Es gibt aber Bedingungen. Da sich weder die Allianz noch die Horde deiner annehmen würden, jede Seite aus ihren eigenen Gründen …“
Vol’jin zuckte mit den Schultern, zumindest soweit es ihm möglich war. „Hilflos.“
„… und da du noch nicht wieder gesund bist, solltest du sie dir anhören.“ Chen nickte und hob in einer beruhigenden Geste die Pfote, mit der Handfläche nach oben. „Meister Taran Zhu möchte, dass du von uns lernst. Nun, nicht wirklich von uns. Die meisten Einheimischen betrachten Pandaren, die auf Shen-zin Su aufgewachsen sind, als ‚wilde Hunde‘. Wir sehen aus wie sie, klingen wie sie, riechen wie sie, aber wir sind anders. Sie wissen nicht, was sie von uns halten sollen. Anfangs fand ich das Ganze ziemlich verwirrend, aber dann ist mir klar geworden, dass viele der anderen Trolle die Dunkelspeere vielleicht genauso betrachten.“
„Nicht. Falsch.“ Vol’jin schloss einen Moment lang die Augen. Falls Taran Zhu wünscht, dass ich von den Pandar’n und ihrer Leb’nsart lerne, dann heißt das, dass er eigentlich mich studier’n will. So würd’ ich’s auch mit ihm machen.
„Er glaubt, du bist Tushui – umsichtig und ausgeglichen. Ich habe ihm viel von dir erzählt, und ich teile seine Meinung. Tushui gehört nicht zu den Eigenschaften, die er in der Horde gesehen hat. Er möchte verstehen, warum du anders bist als sie. Aber zu diesem Zweck möchte er, dass du den Weg der Pandaren erlernst. Einige unserer Worte, unserer Sitten. Aber versteh das nicht falsch, er will nicht, dass du wirst wie einer dieser Trolle, die nach Donnerfels gehen und dann als blaue Tauren zurückkehren. Er möchte nur, dass du verstehst.“
Vol’jin öffnete die Augen und nickte, doch dann fiel ihm auf, dass Chen kurz zögerte, mit seinen Ausführungen fortzufahren. „Was?“
Der Pandaren hob den Kopf und wandte den Blick ab, wobei er nervös die Fingerspitzen zusammentippte. „Nun, weißt du, das Gegengewicht zum Tushui ist Huojin. Das steht eher für das Impulsive, für die ‚Erst alle niedermetzeln und dann nachsehen, wen man erledigt hat‘-Mentalität. So wie Garrosh, als er beschlossen hat, dich zu töten. Die ganze Horde scheint dieser Tage ziemlich Huojin zu sein. Bei der Allianz sieht man solches Verhalten normalerweise nicht.“
„Und?“
„Diese beiden Dinge sind jetzt im Gleichgewicht. Taran Zhu hat mit mir über Wasser und Anker und Schiffe und all das gesprochen. Sehr kompliziert, auch wenn man die Besatzung außen vor lässt. Aber worauf es hinauslief, ist Balance. Er mag Balance, er will ein Gleichgewicht, und bevor du ankamst, gab es hier ein Ungleichgewicht, verstehst du?“
Obwohl es ihn eine gewaltige Kraftanstrengung kostete, zog Vol’jin die Augenbraue hoch.
„Nun …“ Chen blickte über die Schulter zu einem leeren Bett hinüber. „Ungefähr einen Monat, bevor ich dich fand, da stieß ich bei einer Wanderung auf einen Menschen. Er war schwer verletzt, sein Bein kompliziert gebrochen, also brachte ich ihn ebenfalls hierher. Er ist schon ein wenig weiter genesen als du, aber Trolle heilen ja schneller. Die Sache ist: Taran Zhu will, dass er sich um dich kümmert.“
Ein Blitz explodierte in Vol’jins Geist, aber so schwach, wie er war, konnte der Schock seinem Körper nicht einmal ein Zucken entlocken. „Nein!“
Chen streckte beide Pfoten aus und drückte den Troll wieder nach unten. „Nein, nein, du verstehst nicht. Für ihn gelten hier dieselben Einschränkungen wie für dich. Er wird dich nicht … Ich weiß, du hast keine Angst vor Menschen, Vol’jin. Meister Taran Zhu hofft, dass dieser Mann sich selbst heilen wird, indem er dir hilft, wieder gesund zu werden. Das gehört zum Weg der Pandaren, mein Freund. Indem man das Gleichgewicht wiederherstellt, fördert man die Heilung.“
Obwohl die Berührung von Chens Pfoten weich und nur von sanfter Kraft war, konnte Vol’jin sich nicht dagegen wehren. Einen Herzschlag lang kam ihm der Gedanke, dass die Mönche ihm ganz bewusst einen Trunk eingeflößt haben könnten, der ihn so schwach machte. Doch dann hätte Chen Teil dieser List sein müssen, und der Pandare hätte sich niemals zu so etwas bereit erklärt.
Der Troll verdrängte seinen Zorn, und seine Frustration gleich mit. Meister Taran Zhu wollte ihn also nicht nur studieren, sondern auch sehen, wie er mit einem Menschen zurechtkam. Vol’jin hätte ihm eine lange Geschichte über die Beziehungen zwischen Menschen und Trollen erzählen können, die aufzeigte, warum sie einander so hassten. Er hatte mehr Menschen getötet, als er sich noch erinnern wollte, doch keiner von ihnen hatte ihm schlaflose Nächte bereitet; im Gegenteil, ihre Tode ließen ihn noch besser schlafen. Und er war sicher, dass es dem Mann hier im Kloster ebenso ging.
Da erkannte er, auch wenn Taran Zhu sich all diese Geschichten anhören würde, wären sie doch durch die Natur des Erzählers verzerrt. Indem er einen Troll und einen Menschen zusammensteckte, konnte er sie beobachten, lernen und seine eigenen Rückschlüsse ziehen.
Nicht die dümmste Methode, muss ich zugeben. Vol’jin rief sich ins Gedächtnis, dass er für Meister Taran Zhu nichts weiter als ein Troll war, ganz gleich, wie viel Chen dem Mönch über ihn erzählt hatte. Die Vergangenheit des Menschen interessierte ihn vermutlich ebenso wenig. Wer sie waren, hatte schließlich keinerlei Einfluss darauf, wie sie aufeinander reagierten, und das war die Information, um die es dem Pandaren ging. Dass er das wusste und dass er die Information in diesem Wissen manipulieren konnte, gab Vol’jin eine gewisse Macht.
Er blickte zu Chen auf. „Du. Findest. Gut?“
Überraschung weitete die Augen des Braumeisters, dann lächelte er. „Es ist das Beste, für dich und für ihn, für Tyrathan. Die Nebel haben Pandaria lange Zeit verborgen. Du und er, ihr teilt ein gemeinsames Band, wie ein Pandaren es nie zu euch aufbauen könnte. Gemeinsam werdet ihr schneller gesund.“
„Wozu? Damit. Später. Töten.“
Chens Brauen wanderten nach unten. „Vermutlich. Er ist ebenso unglücklich über diese Sache wie du, aber er wird sich an die Regeln halten, um hierbleiben zu dürfen.“
Vol’jin legte den Kopf schräg. „Name?“
„Tyrathan Khort. Du wirst ihn nicht kennen. Er ist in der Allianz nicht so hoch aufgestiegen wie du in der Horde. Aber er war ein wichtiger Mann, ein Anführer unter den Allianztruppen hier. Und seine Wunden stammen nicht von den Attentätern seines eigenen Königs. Er wurde in einer Schlacht verletzt, die Pandaria geholfen hat, das ist alles, was ich weiß. Darum hat Meister Taran Zhu auch zugestimmt, ihn hier zu pflegen. Er trägt eine tiefe Trauer in sich, die sich durch nichts heilen lassen will.“
„Nicht. Mal. Durch. Bier?“
Der Pandaren schüttelte den Kopf, und seine Augen schweiften in die Ferne. „Er trinkt, und er verträgt einiges. Aber der Alkohol macht ihn nicht ausgelassen. Er bleibt stets grüblerisch und still. Eine weitere Eigenschaft, die ihr beide teilt?“
„Tushui, ja?“
Chen warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus. „Sie haben deinen Körper auseinandergenommen, aber deinen Geist konnten sie nicht verletzen. Ja, das wäre Tushui, und wenn das alles wäre, gäbe es kein Gleichgewicht. Aber seitdem er wieder in der Lage ist, mit Krücken zu stehen, zieht er jeden Tag los, um auf den Berg zu klettern. Das ist äußerst Huojin. Und dann bleibt er stehen, nach einhundert Schritten, zweihundert Schritten, und kehrt völlig erschöpft wieder zurück. Nicht körperlich erschöpft, aber im Geiste. Sehr, sehr Huojin.“