Zweifel? Vol’jin wehrte den Gedanken ab. Er war nur eine Ablenkung. Im Grunde wollte er ihn verdrängen, doch stattdessen tat er, was der Mönch ihm aufgetragen hatte. Er stellte sich seine Zweifel bildhaft vor, als schimmernde blauschwarze Kugel, aus der Funken aufstoben, dann ließ er sie durch den Stein hindurchschweben, sodass sie eine Fingerlänge dahinter zum Stehen kam.
Nun konzentrierte der Troll sich, wobei er tief ein- und dann scharf ausatmete. Er stieß seine Faust nach vorne, und er hielt nicht inne, als die Steinplatte zerbarst, sondern zog ganz durch, um die Kugel seiner Zweifel zu zerschmettern. Er hätte schwören können, dass er keinen Widerstand spürte, bis er die Kugel traf, so als wäre der Stein überhaupt nicht da gewesen. Da war nur der Staub, den er sich nach dem Schlag vom Arm wischte.
Taran Zhu verbeugte sich respektvoll.
Vol’jin erwiderte die Geste, und diesmal hielt er den Kopf länger gesenkt als zuvor.
Die anderen Mönche verbeugten sich ebenfalls, erst vor ihrem Meister, als dieser sich zurückzog, dann vor ihm. Vol’jin neigte erneut den Kopf. Wie sich später zeigte, hatte das Jian an diesem Tag erneut eine andere Bedeutung angenommen.
Erst am Abend, als er allein in seinem Zimmer saß, den Rücken gegen den kühlen Stein gelehnt, erkannte er zumindest teilweise, was er gelernt hatte. Seine Hand war weder geschwollen noch steif, aber er konnte noch immer spüren, wie sie seine Zweifel zertrümmert hatte. Er spreizte die Finger, sah zu, wie sie sich bewegten, froh, dass sie wieder eins mit ihm waren.
Taran Zhu hatte recht gehabt, indem er seine Zweifel zum Ziel machte. Zweifel zerstörten die Seele. Welche denkende Kreatur konnte zur Tat schreiten, solange sie Zweifel an ihrem Erfolg hegte? Daran zu zweifeln, dass er den Stein durchschlagen könnte, hieß einzugestehen, dass seine Hand brechen, seine Knochen zersplittern, sein Fleisch reißen und sein Blut fließen könnte. Und wenn er lange genug über diese Möglichkeit nachdachte, würde sie zwangsläufig auch eintreten. Dieses Ende würde zu seinem Ziel werden, und es wäre das Einzige, was er erreichen könnte. Wenn er sich hingegen zum Ziel setzte, seine Zweifel zu zerstören, und er dieses Ziel traf, was war dann noch unmöglich?
Zalazane kehrte in seine Gedanken zurück, aber nicht als Vision, sondern in Gestalt mehrerer Erinnerungen. Zweifel hatten seine Seele zerstört. Sie waren gemeinsam aufgewachsen, als beste Freunde. Weil Sen’jin, der Anführer der Dunkelspeertrolle, sein Vater war, war Vol’jin schon immer als der Bessere der beiden betrachtet worden, doch er selbst hatte nie so gedacht. Zalazane hatte das gewusst, und sie hatten oft darüber gesprochen und über die Ignoranz derer gelacht, die einen von ihnen für einen Helden und den anderen für seinen unbedeutenden Gefährten hielten. Während Vol’jin darauf hinarbeitete, ein Schattenjäger zu werden, hatte sich Zalazane unter Meister Gadrin zum Hexendoktor ausbilden lassen. Sen’jin selbst hatte ihn dazu ermutigt, und einige unter den Dunkeltrollen vermuteten, dass er Zalazane zu seinem Nachfolger heranzog, weil Vol’jin zu Höherem bestimmt war.
Doch auch damit hatten die Trolle falschgelegen, denn Zalazane und Vol’jin glaubten an Sen’jins Traum von einem Heimatland für die Dunkelspeere. Ein Ort, an dem sie aufblühen konnten, ohne Furcht und ohne Feinde, die sie heimsuchten. Nicht einmal Sen’jins Tod durch die Klauen der Murlocs hatte diesen Traum auslöschen können.
Irgendwo, irgendwann hatten sich dann Zweifel in Zalazanes Seele gefressen. Vielleicht weil er gesehen hatte, dass selbst ein mächtiger Hexendoktor wie Sen’jin einfach so sterben konnte. Vielleicht weil er einmal zu oft gehört hatte, dass Vol’jin der Held war und er nur der Wegbegleiter. Vielleicht aus irgendeinem anderen Grund, den Vol’jin nicht einmal erahnen konnte. Doch warum auch immer, Zalazane hatte beschlossen, die Macht brutal an sich zu reißen.
Diese Macht hatte ihn in den Wahnsinn getrieben. Er hatte die meisten der Dunkelspeere versklavt und in hirnlose Lakaien verwandelt, während Vol’jin mit einigen anderen geflohen war. Später war der Schattenjäger dann mit seinen Verbündeten von der Horde zurückgekehrt, um die Echo-Inseln zu befreien. Er selbst hatte den Angriff geführt, dem Zalazane zum Opfer gefallen war, und er hatte das Blut seines alten Freundes gespürt, gehört, wie er seinen letzten Atemzug tat. Wenn er an diesen Moment zurückdachte, an den letzten Funken, den er in Zalazanes Augen gesehen hatte, dann wollte er glauben, dass sein Freund wieder zu Sinnen gekommen war und dass es ihn mit Freude erfüllt hatte, endlich frei zu sein.
Garrosh muss es so ähnlich geh’n. In die höchsten Ränge erhoben, weil er seines Vaters Sohn war, aber kaum um seiner selbst oder seiner Taten willen verehrt, war Garrosh bei den meisten gefürchtet. Er hatte gelernt, dass Furcht eine wirkungsvolle Peitsche war, um seine Untergebenen im Zaum zu halten. Doch nicht alle zuckten unter dem Schnalzen dieser Peitsche zusammen.
Ich nicht.
Garrosh zweifelte an seiner Position, weil er spürte, dass er sie sich nicht selbst verdient hatte, sondern sie dem Andenken seines Vaters schuldete. Und wenn man sich selbst als unwürdig betrachtete, dann taten andere es sicher auch. Ich zum Beispiel, und das habe ich ihm auch gesagt. Zweifel konnten verborgen werden, was bedeutete, dass jeder ein potenzieller Feind war, und der einzige Weg, diese Feinde auszuschalten, war, sie alle zu beherrschen.
Doch alle Siege der Welt würden die Stimme in seinem eigenen Kopf nicht zum Schweigen bringen, die sagte: „Ja, aber du bist nicht dein Vater.“
Vol’jin streckte sich auf der Schlafmatte aus. Mein Vater hatte einen Traum, und er teilte ihn mit mir. Er machte ihn zu meinem Erbe, und glücklicherweise hab ich ihn verstand’n. Darum kann ich ihn Wahrheit werden lass’n. Darum kann ich Frieden find’n.
Er flüsterte in die Leere hinein. „Aber Garrosh wird nie Frieden find’n. Und er wird auch niemand ander’n Frieden find’n lassen.“
7
Ein Sturm wehte mit heulenden Winden und dunklen Wolken aus dem Süden heran, und der Schnee peitschte fast waagrecht durch die Luft, mit einer solchen Wucht, dass es schmerzte. Der Blizzard war unglaublich schnell herangekommen: Als Vol’jin aufgewacht war, hatte die Sonne geschienen, aber noch bevor er seine morgendlichen Pflichten erledigen konnte – in diesem Fall die obersten Fächer der Regale abzustauben, in denen viele alte Schriftrollen aufbewahrt wurden –, war die Temperatur bereits gefallen und die Luft dunkler geworden, und das Jaulen des Sturms hatte sich erhoben, als würden heulende Dämonen über das Kloster herfallen.
Vol’jin wusste nicht viel über Schneestürme, aber gerade das verhinderte, dass er in Panik geriet, während ältere Mönche das Kloster durchkämmten, um alle im großen Speisesaal zu versammeln. Jeder Pandaren ging an seinen Essensplatz, und Vol’jin, der größer als die anderen war, konnte sehen, dass die Mönche die Anwesenden abzählten. Erst da fiel ihm ein, dass ein so heftiger Sturm jeden Wanderer blenden und in die Irre führen könnte. In diesem Blizzard verloren zu gehen, bedeutete den sicheren Tod.
Zu seiner Schande fiel ihm überhaupt nicht auf, was Chen bemerkte, noch bevor das Durchzählen beendet war. „Tyrathan ist nicht hier.“
Vol’jin spähte hoch zum Gipfel des Berges. „Er würde nicht rausgeh’n, wenn sich so ein Sturm zusammenbraut.“
Taran Zhu stellte sich auf ein erhöhtes Podium. „Es gibt eine Nische, wo er oft Rast macht. Sie ist nach Norden ausgerichtet und gut abgeschirmt. Von dort hätte er den Sturm nicht kommen sehen. Meister Sturmbräu, Ihr werdet ein Fass mit Eurem Gute-Besserungs-Gebräu füllen. Das erste und das zweite Haus werden sich zu Suchgruppen organisieren.“