Der Troll hob den Kopf. „Was soll ich tun?“
„Kümmert Euch weiter um Eure Pflichten, Vol’jin.“ Wenn Taran Zhu seinen Namen aussprach, gab es kein Jian.
„Der Sturm wird ihn umbring’n.“
„Euch würde er ebenfalls töten. Und zwar noch schneller als ihn.“ Der alte Pandaren klatschte einmal mit den Pfoten, und die Mönche gingen eilig ans Werk. „Ihr wisst nur wenig über solche Schneestürme. Ihr mögt vielleicht Steine zerschmettern, aber dieser Sturm kann Euch zerschmettern. Er würde Euch alle Wärme und Stärke aus dem Leib saugen. Wir müssten Euch hierher zurücktragen, lange bevor wir ihn fänden.“
„Ich kann doch nicht einfach nur danebensteh’n …“
„… und nichts tun? Gut, dann will ich Euch eine Aufgabe geben, eine Frage, über die Ihr nachdenken könnt.“ Die Nüstern des Pandaren zuckten, aber seine Stimme blieb gleichmäßig und emotionslos. „Wollt Ihr handeln, um den Menschen zu retten oder um Euer Selbstverständnis als Held zu wahren? Ich denke, Ihr werdet viele Regale abstauben können, bevor Ihr die wahre Antwort auf diese Frage gefunden habt.“
Zorn brannte in Vol’jins Seele, aber er gab ihm keine Stimme. Der Meister der Mönche hatte zweimal direkt ins Schwarze getroffen, so wie die Bogenschützen, die unter seiner Aufsicht trainierten. Es stimmte, der Sturm würde ihn töten. Gut möglich, dass er dort draußen nicht einmal überleben würde, wenn er bei voller Gesundheit wäre; Kälteresistenz war für die Dunkelspeertrolle niemals ein ernst zu nehmendes Thema gewesen.
Wichtiger noch war aber, dass Taran Zhu erkannt hatte, warum Vol’jin wirklich an dem Rettungseinsatz teilnehmen wollte. Das war der Pfeil, der ihn am schmerzhaftesten traf. Es war nicht die Sorge um Tyrathan Khorts Wohl, die ihn umtrieb, sondern die Sorge um sich selbst. Er wollte nicht länger zurückbleiben müssen, wenn es galt, auf eine Gefahr zu reagieren; das war ein Zeichen von Schwäche, und er wollte sich keine Schwäche eingestehen. Könnte er Tyrathan retten, würde das außerdem beweisen, dass er und seine Gesundheit dem Menschen überlegen waren. Dann würde es nicht mehr so sehr schmerzen, dass der Mann seine Schwäche gesehen hatte.
Als er sich wieder dem Abstauben zuwandte, erkannte Vol’jin, dass er sich Tyrathan verpflichtet fühlte, und dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Trolle und Menschen waren einander nie wirklich verbunden gewesen, außer in ihrem Hass. Vol’jin hatte mehr Männer getötet, als er zählen konnte, und die Art, wie der Jäger ihn studiert hatte, ließ darauf schließen, dass auch er schon zahlreiche Trolle auf dem Gewissen hatte. Sie waren als Feinde geboren, und war das nicht auch der Grund, warum die Pandaren sie überhaupt hierbleiben ließen? Weil sie so gegensätzlich waren, dass sie einander ausglichen?
Und trotzdem hat dieser Mann mir nichts als Güte geschenkt. Ein Teil von Vol’jin wollte das als Schwäche abtun. Tyrathan hatte sich ihm aus Furcht untergeordnet, in der Hoffnung, dass Vol’jin ihn dann nicht töten würde, wenn es ihm wieder besser ging. Es wäre leicht, das zu glauben, und viele Trolle wären so überzeugt davon, als hätten die Loa es ihnen in einer Nachricht übermittelt. Doch Vol’jin konnte das nicht akzeptieren. Man hatte Tyrathan aufgetragen, sich um ihn zu kümmern, aber die zusätzliche Mühe, die er sich mit der Tunika gemacht hatte – so verhielt sich kein Diener, der nur seinen Pflichten nachkam.
Es war mehr. Und es verdient Respekt.
Vol’jin war mit den oberen Fächern fertig und hatte sich längst den unteren gewidmet, als die Suchtrupps zurückkehrten, und ihre aufgeregten Stimmen deuteten darauf hin, dass sie Erfolg gehabt hatten. Beim Mittagessen hielt der Troll erst nach Tyrathan Ausschau, dann nach Chen und Taran Zhu. Als er keinen von ihnen sehen konnte, suchte er nach den Heilern. Einen oder zwei von ihnen entdecke er, aber sie blieben gerade lange genug, um sich etwas zu essen zu nehmen, dann verschwanden sie wieder.
Der Sturm belagerte den Berg, und der Tag blieb grimmig und dunkel, bis noch tiefere Dunkelheit und noch eisigere Kälte schließlich sein Ende einläuteten. Als die Mönche sich zum Abendmahl versammelten, trat eine junge Mönchin an ihn heran und führte ihn in die Krankenstation, in der ihn bereits Chen und Taran Zhu erwarteten. Keiner von ihnen machte einen fröhlichen Eindruck.
Tyrathan Khort lag in einem Bett, seine Haut war ganz grau, und Schweiß perlte auf seiner Stirn. Mehrere warme Decken hüllten ihn bis zum Kinn ein, und obwohl er versuchte, sie fortzustrampeln, waren seine Bewegungen so schwach, dass sie ihn weiter bedeckten. Kurz durchzuckte Mitgefühl Vol’jin.
Der Leiter des Klosters richtete einen Finger auf den Troll. „Ich habe eine Aufgabe, um die Ihr Euch kümmern werdet. Falls nicht, wird er sterben. Und bevor ein schändlicher Gedanke sich in Eurem Geist einnistet, lasst mich Euch Folgendes sagen: Falls Ihr Euch weigert, werdet Ihr ebenfalls sterben. Nicht durch meine Hand und auch nicht durch die eines der Mönche hier. Aber dieses Ding, das Ihr jenseits der Steinplatte zerschmettert habt – durch eine solche Tat würdet Ihr es zurück in Eure Seele lassen, und dann würde es Euch umbringen.“
Vol’jin ließ sich auf ein Knie fallen und beobachtete Tyrathans Gesicht. Furcht, Hass, Scham: Diese und weitere Emotionen wanderten über die Züge des Menschen. „Er schläft. Er träumt. Was kann ich tun?“
„Es geht nicht darum, was Ihr tun könnt, Troll, sondern darum, was Ihr tun müsst.“ Taran Zhu atmete langsam aus. „Weit entfernt von hier, im Süden und im Osten, befindet sich ein Tempel. Er ist einer von vielen in Pandaria, aber er und einige andere wie er sind etwas Besonderes. Denn in jedem von ihnen hat Kaiser Shaohao in seiner Weisheit einen der Sha eingesperrt. Die Sha ähneln in ihrer Natur Euren Loa. Sie verkörpern Aspekte des intellektuellen Wesens – die dunklen Aspekte. Im Tempel der Jadeschlange hat der Kaiser den Sha des Zweifels eingekerkert.“
Vol’jin runzelte die Stirn. „Es gibt keine Geister des Zweifels.“
„Nein? Was hast du dann mit diesem Schlag zerstört?“ Taran Zhu verschränkte die Pfoten hinter seinem Nacken. „Du hast Zweifel, wir alle haben Zweifel, und der Sha benutzt sie. Er lässt sie in unserem Innern vibrieren, um uns zu lähmen, unsere Seele zu töten. Wir, die Shado-Pan, werden ausgebildet, um den Sha entgegenzutreten, wie Ihr inzwischen wisst. Doch unglücklicherweise ist Tyrathan Khort ihnen begegnet, bevor er bereit dafür war.“
Vol’jin erhob sich wieder. „Was kann ich tun? Was muss ich tun?“
„Ihr seid von dieser Welt. Ihr versteht sie.“ Taran Zhu nickte Chen zu. „Meister Sturmbräu hat in unserer Apotheke ein Getränk zubereitet, das wir Wein der Erinnerung nennen. Sowohl Ihr als auch der Mensch werden davon trinken, und dann werden wir Euch in seine Träume führen. So wie die Loa bisweilen durch Euch agieren, so werdet Ihr durch ihn handeln. Ihr habt Eure Zweifel zerstört, Vol’jin, aber er ist noch immer von ihnen infiziert. Ihr müsst seine Zweifel finden und sie austreiben.“
Die Augen des Trolls wurden schmal. „Könnt Ihr das denn nicht tun?“
„Wenn ich es könnte, würde ich diese Aufgabe wohl kaum jemandem anvertrauen, der wenig mehr ist als ein Novize, glaubt Ihr nicht auch?“
Vol’jin neigte den Kopf. „Natürlich.“
„Eine Warnung habe ich noch für Euch, Troll. Ihr müsst begreifen, dass nichts von dem, was Ihr seht und erlebt, real ist. Es sind seine Erinnerungen vergangener Ereignisse. Könntet Ihr mit allen Überlebenden dieser Schlacht reden, würde jeder Euch eine andere Geschichte erzählen. Versucht also gar nicht erst, seine Erinnerungen zu verstehen. Findet seine Zweifel und merzt sie aus.“
„Ich werde schon wiss’n, was zu tun ist.“
Die Mönchin und Chen schoben ein weiteres Bett heran, aber Vol’jin winkte ab und setzte sich stattdessen auf den Steinboden neben Tyrathan. „Das wird mir helf’n, mich daran zu erinnern, dass ich ein Troll bin.“
Er nahm eine hölzerne Schale aus Chens Pfote. Die schwarze Flüssigkeit darin war ölig und brannte, als wäre sie mit Brennnesseln versetzt. Schnell breitete sich ein saurer Geschmack auf Vol’jins Zunge aus, nur dort nicht, wo das bittere Brennen seinen Mund betäubte. Nach zwei Schlucken war der Wein der Erinnerung seine Kehle hinuntergerannt, und nun legte er sich hin und schloss die Augen.