Doch Vol’jin streckte seine Geisterhand aus und packte ihn unterhalb des Dorns, so wie er auch eine Schlange ergreifen würde. Mit einem Streicheln seines Daumens köpfte er den Zweifel, dann packte er ihn weiter unten und riss auch den Rest des Fadens los.
Doch der mittlere Teil der schwarzen Viper kroch schnell und tief in Tyrathan hinein, und dort schlang er sich fest um das Herz des Jägers und begann zuzudrücken. Der Körper des Menschen verspannte sich, sein Rücken krümmte sich, aber der zerrissene Faden konnte nicht fest genug zudrücken. Also wand er sich nach unten, fort vom Herzen, und schlängelte sich stattdessen um seine Wirbelsäule, um auf Tyrathans Schmerzen in sein Gehirn hinaufzureiten.
Dort angekommen stieß er zu und entlockte dem Menschen einen markerschütternden Schrei. Vol’jins Bild von Tyrathan verschwand wie ein Spiegelbild im Wasser, das von einem Strudel verschlungen wird. Sämtliches Licht versickerte in einem schwarzen Loch, und nur silberne Qualen züngelten wieder heraus, die Mensch wie Troll gleichermaßen erschütterten.
Vol’jin zuckte hoch, sein Gesicht nass vor Schweiß, und seine Hände suchten seinen Körper instinktiv nach Wunden ab. Er griff an seine Hüfte, spürte, wie der Schmerz der gebrochenen Knochen schwand, und nach einem Keuchen blickte er zu Tyrathan hoch.
Ein wenig Farbe war unter die Haut des Menschen zurückgekehrt, und er atmete leichter, außerdem strampelte er nicht länger unter seinen Decken.
Vol’jin musterte ihn genauer. Er war noch immer so schwach und so viel zerbrechlicher, als der Troll sich hätte vorstellen können, bevor er in seine Haut geschlüpft war. Doch er hatte einen stählernen Willen, und er würde sich erholen. Ein Teil von Vol’jin hasste den Gedanken, weil er erkannte, dass viele Menschen diese Eigenschaft teilten. Das bedeutete nichts Gutes für die Trolle. Doch zugleich bewunderte er Tyrathan, denn man brauchte einen starken Geist, um so erbittert gegen den Tod anzukämpfen.
Der Troll blickte hoch zu Meister Taran Zhu. „Ein paar Zweifel sind mir entwischt. Ich konnte sie nicht alle auslöschen.“
„Ihr habt genug getan.“ Der Pandaren-Mönch nickte ernst. „Fürs Erste wird es reichen müssen.“
8
Der Sturm ließ gemeinsam mit Tyrathans Fieber nach, was in Chen die Frage heraufbeschwor, ob der Blizzard vielleicht widernatürlicher Art gewesen sein könnte. Es war eine unheilvolle Vorstellung, aber sie quälte ihn nicht allzu lange. Sie konnte sich nicht in seinem Herzen festsetzen, denn noch während die letzte Schneeflocke fiel, sah er, wie sich die Schneelilien bereits wieder nach oben kämpften, dem Sonnenlicht entgegen. Falls böse Mächte am Werk wären, würden sie so etwas gewiss nicht erlauben.
Taran Zhu urteilte nicht über die Natur und den Ursprung des Sturms, sondern schickte sogleich Mönche nach Süden, Westen und Osten, um den Schaden abschätzen zu lassen. Chen meldete sich freiwillig, nach Osten zu gehen, da sich der Tempel des Weißen Tigers in dieser Richtung befand. Er könnte also seine Nichte besuchen und sehen, wie es ihr ging. Taran Zhu erklärte sich einverstanden, und er versicherte ihm, dass Tyrathan in seiner Abwesenheit die beste Pflege erhalten würde.
Für Chen fühlte es sich gut an, wieder aus dem Kloster herauszukommen. Unterwegs zu sein nährte seine Reiselust, und er war sicher, die meisten Mönche sahen darin den einzigen Grund für seine Bereitschaft, von ihrem Berg herunterzusteigen. Es passte in ihre Anschauung der Welt, und es passte zu ihrer Vorstellung, dass alle, die auf Shen-zin Su gelebt hatten, von Natur aus unausgeglichen waren und zu Huojin tendierten.
Chen wollte auch gar nicht bestreiten, dass er es genoss, zu reisen und zu erforschen. Andere mochten dabei kalte Füße bekommen, weil sie fürchteten, sich in fremde Angelegenheiten zu verstricken, aber nicht er. Mit einem Lächeln wandte er sich zu seiner Reisebegleiterin herum. „Wann immer ich losziehe, habe ich das Gefühl, dass ich dadurch jemand anders Platz mache, der sich an meiner statt ausruhen und ein wenig sein Leben genießen kann.“
Yalia Weisenwisper bedachte ihn mit einem fragenden Blick, aber auch mit einer gewissen Heiterkeit. „Meister Sturmbräu, führen wir eine weitere dieser Unterhaltungen, bei denen ich das Gefühl habe, ich hätte die erste Hälfte verpasst?“
„Verzeiht, Schwester. Manchmal klappern die Gedanken in meinem Kopf umher und fallen dann einfach heraus wie Jihui-Würfel. Nicht einmal ich weiß, welche Seite am Ende nach oben zeigt.“ Er deutete zurück in Richtung des Klosters, das nunmehr unter einer Decke aus Wolken verborgen war. „Ich habe rein gar nichts gegen das Leben im Kloster einzuwenden.“
„Aber Ihr könntet dort nicht auf ewig leben?“
„Nein, ich schätze nicht.“ Chen runzelte die Stirn. „Haben wir uns nicht schon darüber unterhalten?“
Sie schüttelte den Kopf. „Manchmal, Meister Sturmbräu, wenn Ihr beim Fegen des Hofes innehaltet oder wenn Ihr zuseht, wie der Mensch zu seiner Wanderung den Berg empor aufbricht, verliert Ihr Euch. Dann richten sich Eure Gedanken auf einen anderen Ort, genauso konzentriert, als würdet Ihr ein neues Gebräu vorbereiten.“
„Das ist Euch aufgefallen?“ Chens Herz schlug ein wenig schneller. Hast du mich beobachtet?
„Es ist schwer, die Liebe zum Abenteuer zu ignorieren, wenn sie so hell in einem brennt.“ Er fing einen Seitenblick auf, und dann gesellte sich ein Lächeln hinzu. „Wollt Ihr wissen, was ich sehe, wenn Ihr arbeitet?“
„Es wäre mir eine Ehre, Eure Gedanken zu hören.“
„Ihr werdet zu einer Linse, Meister Sturmbräu. Ihr kennt die ganze Welt – die Welt jenseits von Pandaria –, und Ihr bündelt dieses Wissen und leitet es in Eure Arbeit. Nehmen wir zum Beispiel dieses Gute-Besserung-Bier, das Ihr für den Troll gebraut habt. Es gibt Pandaren-Braumeister, die haben ebenso viel Talent wie Ihr. Vielleicht sogar noch mehr. Doch keiner von ihnen hat Eure Erfahrung. Keiner von ihnen weiß, welche Zutaten er hinzufügen muss, um einen Troll gesund zu machen.“ Sie blickte zu Boden. „Ich fürchte, ich drücke mich nicht allzu verständlich aus.“
„Nein, ich verstehe schon. Danke!“ Chen lächelte. „Es macht einen immer demütig, wenn man sich durch die Augen eines anderen sieht. Ihr habt natürlich recht. Es ist nur, ich habe nie das Gefühl, als würde ich etwas bündeln. Für mich ist es Spaß, eine Gabe, die ich an andere weitergeben kann. Als ich für Euch und Meister Taran Zhu Tee gemacht habe, wollte ich meine Wertschätzung zeigen und etwas von mir mit Euch teilen. Nach Eurer Einschätzung bedeutet das, dass ich einen Teil der Welt gebündelt habe.“
„Ja, das habt Ihr getan. Danke!“ Sie nickte, während sie langsam in ein Tal hinabstiegen, wo bebaute Felder einen Flickenteppich um ein fernes Dorf bildeten. „Eurer Bemerkung eben entnehme ich, dass es Euch bei dieser Reise nicht nur darum geht, der Schildkröte nachzujagen oder Eure Nichte zu besuchen. Habe ich recht?“
„Ja.“ Chen zog die Brauen zusammen. „Falls ich genau sagen könnte, was es ist, würde ich nicht davor wegrennen. Nicht, dass ich wirklich davonrenne, es ist nur, ich brauche …“
„Eine neue Perspektive.“
„Das ist es.“ Er nickte rasch. Dass sie ihm das Wort von der Zungenspitze genommen hatte, gefiel ihm. „Ich habe die Genesung von Vol’jin und Tyrathan Khort beobachtet. Sie gesunden wieder. Zumindest körperlich. Aber jeder hat noch immer seine Wunden. Ich kann es nicht verstehen …“
Yalia drehte sich herum und legte eine Pfote auf seine Schulter. „Es ist nicht Eure Schuld, dass Ihr nicht in sie hineinsehen könnt. Was sie verbergen, verbergen sie gut. Und selbst wenn Ihr es sehen könntet, sie würden es noch lange nicht erkennen. Diese Art von Heilung kann angeregt, aber nicht erzwungen werden; und manchmal schmerzt es den Heiler, wenn er warten muss.“
„Sprecht Ihr da aus Erfahrung?“ Chen sprang über einen schmalen Bach.
Geschmeidig stieg Yalia von Stein zu Stein über den Wasserlauf hinweg. „Aus einer Erfahrung, ja. Einer äußerst seltenen Erfahrung. Die meisten unserer Schüler qualifizieren sich durch eine Reihe von Prüfungen, aber das ist nicht immer so. Wisst Ihr, wie die anderen Kinder, die besonderen Kinder, ausgewählt werden, Meister Sturmbräu?“