„Ja, Meister Sturmbräu.“ Die beiden Pandaren, die zur Steinacker-Familie gehörten, verbeugten sich tief und oft, während die Reisenden sich wieder auf den Weg machten. „Danke, Meister Sturmbräu! Gesegnet sei Eure Nichte und Eure Reise!“
Yalia öffnete den Mund erst wieder, als sie einen Hügel überquert hatten, sodass seine Kuppe zwischen ihnen und dem Acker lag. „Ihr hättet sie doch nicht wirklich geschlagen?“
Chen lächelte. „Ihr solltet mich gut genug kennen, um das wissen.“
„Aber Ihr habt Ihnen Angst gemacht.“
Er breitete die Arme aus und sog das Bild des schmalen Tales in sich auf, das, von steilen Bergen eingefasst, vor ihnen lag. Unter ihnen schlängelte sich ein Fluss dahin, blau, wo die Sonnenstrahlen ihn nicht erreichten, silbern, wo das Licht ihn berührte. Ringsum lag Grün, so viel und so kräftiges Grün, und dazwischen das satte Braun bestellter Felder, das von der Fruchtbarkeit Pandarias kündete. Selbst die Art, wie die Häuser in die Landschaft gebaut waren, verschandelte dieses Bild nicht, sondern rundete es perfekt ab. Alles war genauso, wie es sein sollte.
„Ich bin auf Shen-zin Su aufgewachsen, und ich liebe meine Heimat. Aber wenn ich mir das hier ansehe, dann ist es, als hätte ich in einem Gemälde gelebt. Einem wunderschönen Gemälde, ja, aber nicht dem echten Pandaria. Dieses Land spricht zu mir. Es füllt eine Leere in mir, die ich nie zuvor bemerkt hatte. Vielleicht bin ich deswegen so viel gereist. Ich habe gesucht, aber ich wusste nicht, wonach.“
Er runzelte die Stirn. „Ich habe die beiden nicht so sehr wegen Li Li angeknurrt, sondern weil sie sie einen ‚wilden Hund‘ genannt haben. Für sie, für mich, ist Pandaria unser Zuhause. Es ist ein Ort, wo ich mich niederlassen könnte.“
„Und doch werden diese beiden und viele andere wie sie nie müde, zu betonen, dass Ihr nicht aus Pandaria seid.“
„Ihr versteht also.“
Sie reichte ihm den Leinenbeutel mit den Herzensruhen. „Besser, als Ihr ahnt.“
Sie maßen ihre Reise gen Norden nach Zouchin nicht in Tagen oder Stunden, sondern an der Zahl der Geschichten über Li Li, die sie zu hören bekamen. Seine Nichte war hilfsbereit, aber aufbrausend. Mehr als ein Pandaren, dem sie begegneten, nannte sie einen wilden Hund, aber meist, weil sie sich angeblich selbst so nannte. Und sie schien auch noch stolz darauf zu sein, wie sich herausstellte. Chen konnte nicht umhin zu lächeln, und er konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie die Legende von einem wilden Hund in Pandaria die Runde machte.
In Zouchin, das sich zwischen Klippen und Meer schmiegte, fanden sie schließlich Li Li, die angestrengt in der Mitte des Dorfes arbeitete. Der Sturm hatte hier ein Boot zerstört, mehrere Häuser zum Einsturz gebracht und einen Kai von seinen Stützpfeilern gerissen, und Li Li hatte sich sofort nützlich gemacht. Als Chen und Yalia den Ort erreichten, leitete sie gerade eine Bergungsmannschaft und trieb gleichzeitig die Zimmermänner an, ihre Arbeit an den beschädigten Gebäuden zu beschleunigen.
Chen packte Li Li, umarmte sie und wirbelte sie im Kreis, wie er es getan hatte, als sie noch ein Kind war. Sie quiekte, diesmal aber aus Protest, weil sie ihre Würde zerstört sah. Also setzte er sie ab und verbeugte sich, tief und respektvoll. Diese Geste brachte alle gackernden Zungen zum Verstummen, aber als sie sich ebenfalls verbeugte, ein wenig tiefer und eine Sekunde länger, begann das Getuschel sogleich wieder von vorn.
Nun stellte Chen Yalia seiner Nichte vor. „Schwester Yalia Weisenwisper ist mit mir vom Kloster hierher gereist.“
Li Li zog eine Augenbraue nach oben. „Ich wette, das war eine lange Reise. Wie habt Ihr es geschafft, dass er nicht in jede Taverne eingekehrt ist und den ganzen Weg lang Bier getrunken hat?“
Yalia lächelte. „Unsere Reise wurde durch die Geschichten von Li Li, der wilden Hündin, und ihrer Taten beschleunigt.“
Li Lis Lächeln wurde breiter, und sie stieß ihrem Onkel den Ellbogen in die Rippen. „Sie ist von der aufgeweckten Sorte, Onkel Chen.“ Sie kratzte sich am Kinn. „Weisenwisper? Es gibt hier eine Weisenweiden-Familie … der Name ist fast identisch. Sie haben den Sturm ziemlich gut überstanden, abgesehen von ein paar Beulen und blauen Flecken.“
„Gut zu wissen, Li Li.“ Yalia nickte respektvoll. „Wenn unsere Namen sich so sehr gleichen, werde ich sie vielleicht besuchen, falls Zeit dafür ist.“
„Ich bin sicher, sie werden über die Ähnlichkeit staunen.“ Li Li blickte sich im Dorf um. „Dann mache ich mich mal wieder an die Arbeit. Auf dem Wasser macht den Einheimischen keiner was vor, aber auf dem Land brauchen sie ein wenig Hilfe.“
Sie umarmte ihren Onkel noch einmal und rannte dann zurück zu der Bergungsmannschaft – deren Bewegungen rasch schneller wurden, als sie näher kam.
Chen legte den Kopf schräg. „Ihr wart nicht mehr hier, seit Ihr dem Kloster beigetreten seid und Taran Zhu Euren Namen änderte. Weiß Eure Familie, dass Ihr noch am Leben seid?“
Sie schüttelte den Kopf. „Manche von uns werden als wilde Hunde geboren, Meister Sturmbräu. Andere wählen diesen Weg. Es ist das Beste so.“
Chen nickte und gab ihr den Beutel mit den Herzensruhen zurück.
9
Es überraschte Vol’jin, dass Tyrathan bereits wach und aus dem Bett war, als er mit einem Jihui-Brett und den Spielsteinen in die Krankenstation trat. Der Mensch hatte es bis zum Fenster hinüber geschafft und stand nun dagegengelehnt, so wie Vol’jin selbst vor nicht allzu langer Zeit. Dem Troll fiel auf, dass der Mann seinen Stock am Fußende des Bettes zurückgelassen hatte.
Tyrathan blickte über die Schulter. „Man kann die Spuren des Sturms kaum noch erkennen. Es heißt, den Pfeil, der dich tötet, siehst du nie kommen. Ich habe diesen Sturm nicht kommen sehen. Nicht im Geringsten.“
„Taran Zhu meinte, solche Stürme wären ungewöhnlich, aber nicht selt’n.“ Vol’jin platzierte das Spielbrett auf dem Beistelltisch. „Je später sie komm’n, desto schwerer sind sie.“
Der Mann nickte. „Ich kann nichts sehen, aber ich kann es noch immer spüren. Da ist eine Kälte in der Luft.“
„Du solltest nicht barfuß herumspazier’n.“
„Du auch nicht.“ Tyrathan drehte sich ein wenig wackelig um und stützte sich mit den Ellbogen am Fensterrahmen ab. „Du hast dich selbst ganz gut an die Kälte gewöhnt. Noch vor dem Morgengrauen aufstehen, im Schnee an der Nordseite herumstapfen, wo den ganzen Tag keine Sonne scheint. Bewundernswert, aber dumm. Ich kann dir nur davon abraten.“
Vol’jin schnaubte. „Einen Troll dumm zu nennen, ist auch nicht sonderlich klug.“
„Ich hoffe, du lernst aus meinen Fehlern.“ Der Mensch stieß sich von der Wand ab und wankte auf das Bett zu. Trotz seiner Schwäche war das Humpeln fast ganz verschwunden. Vol’jin wandte sich ihm zu, machte aber keinerlei Anstalten, ihm zu helfen. Tyrathan lächelte und hielt sich am Fußende des Bettes fest, um sich zu erholen. Das war alles Teil des Spiels, das sie spielten.
Anschließend ließ der Mann sich auf den Rand des Bettes sinken. „Du bist spät dran. Musstest du meine Arbeiten übernehmen?“
Vol’jin tat die Frage mit einem Wink ab und zog den Beistelltisch herüber, dann holte er sich einen Stuhl. „So erhole ich mich schneller.“
„Jetzt musst du dich also um mich kümmern.“
Der Troll hob den Kopf. „Auch Trolle hab’n ein Pflichtgefühl.“
Tyrathan lachte. „Sogar ich kenne Trolle gut genug, um das zu wissen.“
Vol’jin schob das Spielbrett in die Mitte des Tisches. „Wirklich?“
„Erinnerst du dich noch daran, wie du meinen Troll-Akzent kommentiert hast? Du sagtest, es sei der Schlingendorn-Akzent?“
„Und du hast mich ignoriert.“
„Ich habe nur nicht geantwortet.“ Tyrathan nahm einen Behälter, schüttelte die Spielsteine heraus und ordnete sie in Sechsergruppen an. „Willst du wissen, wie ich die Sprache gelernt habe?“