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„Ich meinte mehr als nur das Sterben.“

Die Bemerkung war ein Schwert, das sich bis zum Heft in Vol’jins Brust bohrte. Er hatte erkannt, wie passend die Analogie mit der Kette war, auch wenn er es ungern zugab. Offensichtlich hatte die Person, die er gewesen war, Fehler gemacht, und diese Fehler hatten beinahe zu ihrem Tod geführt. Doch er lebte noch, und er hatte dazugelernt; er würde dieselben Fehler kein zweites Mal begehen. Etwas in seinem Geist schloss daraus jedoch, dass der alte Vol’jin makelbehaftet, minderwertig gewesen war. Dass auch ihm Irrtümer unterliefen, konnte er noch akzeptieren, aber diese Vorstellung war zu viel. Dennoch ließ sich der Gedanke nicht mehr abschütteln, dass er unter diesen veränderten Bedingungen nie wieder der Troll sein konnte, der er einmal gewesen war.

Die Kette ist durchtrennt. Die Verbindung unterbrochen.

Dieser Verlust verlieh ihm einen neuen Blickwinkel auf das große Ganze. Vol’jin war nicht nur ein Troll. Er war der Anführer der Dunkelspeere. Er war einer der Köpfe der Horde. Der alte Troll war gestorben. Konnte die Distanz der Loa darauf hindeuten, dass der Schattenjäger ebenfalls tot war? Und bedeutete dieser Tod, dass auch die Dunkelspeere sterben würden, oder die Horde?

Bedeutet das, der Traum meines Vaters stirbt? Sollte dieser Traum enden, würde der Kampf zur Befreiung der Echo-Inseln von Zalazane dann nicht wie ein grausamer Scherz erscheinen? All das Blut, das vergossen worden war – bedeutungslos. All der Schmerz – sinnlos. Ein Ereignis nach dem anderen, alles, was sein Leben ausgemacht hatte und mehr, bis hin zur Geschichte der Trolle, begann zu zerbröckeln.

Habe ich Angst davor, dass mein Versag’n, mein Tod, den Untergang der Dunkelspeere, der Horde, aller Trolle nach sich zieht? Er stellte sich den schwarzen Abgrund zwischen dem Vol’jin, der in einer Blutlache in einer dunklen Höhle lag, und dem Vol’jin, der im Kloster erwachte, bildlich vor. Wird diese Leere alles verschling’n?

Die Stimme des Menschen war kaum mehr als ein Wispern. „Möchtest du wissen, was das wirklich Grausame an der Sache ist, Vol’jin?“

„Sag es mir!“

„Du und ich, wir sind beide gestorben. Wir sind nicht mehr, wer wir waren.“ Tyrathan blickte auf seine leeren Hände hinab. „Jetzt müssen wir uns neu erschaffen. Nicht unser altes Ich wiederherstellen, sondern uns von Grund auf neu erschaffen. Und das ist das Grausame: Beim ersten Mal hatten wir all die Energie der Jugend. Wir wussten nicht, dass unsere Träume unerreichbar sind – wir gingen einfach los und verfolgten sie. Die Unschuld beschützte uns, unser Enthusiasmus und unsere unerschütterliche Zuversicht halfen uns über jeden Rückschlag hinweg. Aber jetzt haben wir nichts von alledem mehr. Jetzt sind wir älter, schlauer, müder.“

„Aber die Last, die wir tragen, ist nicht mehr so schwer.“

Der Mann schmunzelte. „Wohl wahr. Ich glaube, darum gefällt mir die Schlichtheit des Klosters so. Alles ist spartanisch. Die Pflichten sind klar umrissen. In diesem Umfeld kann man sein Bestes geben.“

Die Augen des Trolls wurden schmal. „Du kannst mit Pfeil und Bog’n umgeh’n, aber du beobachtest die Schützen nur. Warum machst du nicht mit?“

„Ich habe noch nicht entschieden, ob das noch ein Teil von mir ist.“ Tyrathan blickte auf und öffnete den Mund, aber nur, um ihn abrupt wieder zuzuklappen.

Vol’jin neigte den Kopf. „Du hattest eine Frage.“

„Eine Frage zu haben heißt nicht, dass man eine Antwort verdient.“

„Nun frag schon!“

„Werden wir unsere Ängste überwinden?“

„Keine Ahnung.“ Der Troll presste die Lippen zu einer schmalen, grimmigen Linie zusammen. „Wenn ich eine Antwort finde, bist du der Erste, der’s erfährt.“

Als Vol’jin sich in dieser Nacht hinlegte und der Schlaf die wachende Welt hinfortwischte, bewiesen die Loa, dass sie sich noch nicht ganz von ihm abgewendet hatten. Er fand sich als eine von Tausenden Fledermäusen wieder, die durch die Nacht flatterten. Hir’eek war zwar nicht bei ihm, aber es konnte nur der Wille des Loa sein, dass Vol’jin im Körper seines Symboltiers steckte. Also flog er mit den anderen dahin und las in den Echos ihrer Schreie, welche die Dunkelheit in eine farblose Welt der Geräusche verwandelten.

Er war überzeugt, dass er nur deshalb noch mit den Loa in Verbindung treten konnte, weil ein so großer Teil von ihm sich als Schattenjäger sah. Er konnte zwar nicht in diese Leere blicken, aber wenn jemand sie zu durchdringen vermochte, dann ein Schattenjäger. Von all dem, was er in seinem Leben erlernt und durchgemacht hatte, war es dieser Teil gewesen, der ihn lange genug am Leben gehalten hatte, um aus der Höhle zu fliehen.

Und die Fledermäuse in dieser Höhle, die haben die Leere geseh’n. Sie wiss’n, was ich vergess’n habe. Er hoffte, dass diese Vision ihm die Leere zeigen würde, und sei es nur in der Schallsicht der Fledermäuse. Und er hoffte, dass die Kette sich wieder zusammenfügen ließe, auch wenn er tief in seinem Inneren wusste, dass es nicht leicht werden würde.

Doch in seiner Weisheit führte Hir’eek den Troll an einen anderen Ort, in eine andere Zeit. Die scharfen Kanten der Steinhäuser zeigten Vol’jin, dass er von neuen Gebäuden umgeben war, nicht von alten Ruinen. Er vermutete daher, dass man ihn in die Periode zurückgebracht hatte, als viele verschiedene Stämme aus den Zandalari hervorgegangen waren und die Trolle sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht befunden hatten. Die Fledermäuse kreisten, dann ließen sie sich in den hohen Türmen um einen zentralen Hof nieder, wo Troll-Legionen eine wogende Menge von insektoiden Aqir-Gefangenen dahinführten.

Es waren Amani, Waldtrolle, die gerade aus dem Krieg mit den Aqir zurückkehrten. Vol’jin kannte die Geschichte genau, aber er vermutete, dass Hir’eek ihn an mehr erinnern wollte als nur an die glorreichen Tage des Amani-Imperiums.

Denn genau die zeigte ihm die Vision. Trolle geleiteten die Aqir mit vorgehaltenen Speeren eine Treppe hinauf, an deren Spitze bereits Priester warteten. Akolyten hievten die Gefangenen anschließend mit bloßgelegten Bäuchen auf Steinaltare, die ganz glitschig waren von Wundsekreten, und dann hoben die Priester Dolche über den Kopf. Die Klinge und das Heft waren jeweils mit einem Symbol verziert, eines für jedes Loa. Die Schallsicht zeigte Vol’jin auch die Griffe, und einen Herzschlag lang sah er auf einem Hir’eeks Gesicht, bevor die Klinge nach unten gerammt wurde und den Bauch des Opfers aufschnitt.

Da manifestierte sich Hir’eek selbst über dem Altar, während der Geist des Aqir als ätherische Dampfwolke aus seiner Leiche emporstieg. Der Fledermausgott atmete sie ein, und dann zog er sich mit unmerklichen Bewegungen seiner sanften Flügel dichter zusammen, sodass seine hell leuchtende Gestalt klarer und schärfer wurde.

Das konnte die Schallsicht Vol’jin aber nicht zeigen. Das sah er mit seinem inneren Auge; eine Fähigkeit, welche er als Schattenjäger verfeinert hatte und der er bedingungslos vertraute. Hir’eek demonstrierte dem Troll, wie man ihn angemessen verehrte – die Pracht und Ehre, die ein Loa verdiente.

Eine Stimme erklang in Vol’jins Kopf, hoch und piepsend. Du hast hart gearbeitet, damit die Dunkelspeere weiterbestehen und es Trolle gibt, die uns anbeten. Diese Mühe, sie zieht dich von uns fort. Dein Körper heilt, aber deine Seele nicht. Und sie wird nie gesunden, wenn du dich nicht wieder des echten Weges besinnst. Wende dich von deiner Vergangenheit ab, und der Abgrund wächst weiter.

„Aber wird er sich schließen, wenn ich zu den alten Wegen zurückkehre, Hir’eek?“ Vol’jin saß senkrecht da und sprach in die Dunkelheit hinein. Anschließend wartete er. Und lauschte.

Doch es kam keine Antwort, und darin sah er ein böses Omen.

10

Khal’ak weigerte sich, den Umhang aus Tigerfell enger um sich zu schlingen, aber sie war doch dankbar für seine Wärme. Obwohl der wütend heulende Sturm sich längst an den hölzernen Befestigungsmauern erschöpft hatte, welche den Hafen auf der Insel des Donnerkönigs umgaben, so schnitten doch weiterhin scharfe Windzüge und eisige Böen in ihr entblößtes Fleisch. Sie hatte gehofft, dass sie inzwischen genug Eistrollfleisch gegessen hätte, um deren Resistenz gegen die Kälte in sich aufzunehmen, aber augenscheinlich war dem nicht so.