Er konnte nicht sagen, welches Loa ihm diese Vision schickte. Sein Körper flog mühelos durch die Lüfte, also war es vielleicht Akil’darah. Doch er flog durch die Nacht, was kein Adler tun würde. Da erkannte er, dass er nicht flog, sondern in der Luft schwebte und durch viele, viele Augen blickte, was ihn zu dem Schluss führte, dass Elortha no Shadra, die Seidentänzerin, ihn zu einem ihrer Kinder gemacht hatte. Er hing hoch oben, an einem Faden aus Spinnenseide, der vom Wind getragen wurde.
Unter ihm teilten sich die Wolken, und Schiffe segelten unter vollen Segeln eilig nach Süden. Diese Szene musste sich vor langer Zeit zugetragen haben, denn auf den breiten quadratischen Segel prangten zandalarische Wappen. Doch Vol’jin wollte auf Anhieb kein geschichtliches Ereignis einfallen, bei dem die Zandalari eine so mächtige Flotte entsandt hatten.
Er blickte hoch in den Nachthimmel und erwartete, dort eine fremde Anordnung von Konstellationen zu erblicken. Doch er erkannte die Sternbilder, und er erschrak.
Dann lachte er.
Sehr gut, Mutter der Gifte. Du zeigst mir die Vision einer Gegenwart, in der ich eine solche Flotte zusammenstell’n könnte. Du zeigst mir, welchen Ruhm ich für dich und die Loa erring’n könnte. Was für eine großzügige Vision! Ich könnte sogar glauben, dass es dem Traum meines Vaters dient. Das Problem ist nur, bin ich überhaupt noch Sen’jins Sohn?
Der Wind erstarb.
Die Spinne fiel.
Und Vol’jin wischte sie und ihr Netz von seinem Gesicht fort, bevor er sich auf die Seite drehte und wieder in einem traumlosen Schlaf versank.
11
Es kam nur selten vor, dass Meister Taran Zhu Emotionen zeigte, und die Art, wie sich in seiner verkniffenen Miene Missfallen und ernste Bedenken vermischten, ließ nichts Gutes erahnen, dennoch konnte Chen nicht anders, als zu lächeln. Sein Herz platzte schier vor Stolz und Freude, und beides wurde noch verstärkt durch die Tatsache, dass Taran Zhu seinem Plan zugestimmt hatte.
Ein großer Teil seiner Freude rührte aus dem Wissen, dass Yalia Weisenwisper den alten Mönch zu dieser Entscheidung überredet hatte. Während der Arbeit in Zouchin und auf dem Rückweg hatte er die Zutaten für ein wundervolles Gebräu gesammelt, und er war sicher, dass es für Pandaren das sein würde, was Gute Besserung für Vol’jin gewesen war. Bei seiner Rückkehr wollte er es sofort mit den anderen teilen, und wie ihm jetzt klar wurde, war es vermutlich gerade dieser Enthusiasmus, der Taran Zhu stutzig gemacht hatte.
Dass Yalia Fürsprache für ihn geleistet hatte, berührte ihn zutiefst. Er mochte sie, hatte sie schon immer gemocht, und während ihrer Reise hatte er noch mehr Liebenswertes an ihr gefunden. Inzwischen wagte er sogar zu hoffen, dass sie seine Zuneigung zumindest ein Stück weit erwiderte. Wie weit, das wusste er nicht, aber jedes Quäntchen war ihm recht, schließlich wuchsen auch aus den kleinsten Eiern die größten Schildkröten.
Niemand in Zouchin hatte sie erkannt, und dass sie nicht sofort ihre Familie aufsuchte, gab ihm Rätsel auf. Li Li und einige andere hatten ihr schließlich von den Weisenweiden erzählt, und sie wusste, dass es ihnen gut ging. Sogar ihre Großmutter lebte noch. Doch Yalia blieb ihnen fern, und ein Teil dieser Reserviertheit ließ sie auch zu Chen auf Abstand gehen.
Es fiel ihm schwer, zu verstehen, warum sie diese Distanz suchte – nicht einmal unbedingt zu ihm, sondern mehr zu ihrer Familie. Er war in Pandaria immer wieder auf Elemente des Zuhauses gestoßen, das er vermisst hatte, und Zouchin schien sich nahtlos in dieses Bild einzufügen. Die nötigen Ressourcen für eine kleine Brauerei waren in Hülle und Fülle vorhanden, und noch während er das Dorf zum ersten Mal erblickte, fasste er den Entschluss, hier ein Brauhaus zu bauen – weil es der perfekte Ort war und weil es ihn Yalia näherbringen würde.
In dieser ersten Nacht, nachdem er ihnen Tee gemacht hatte, sprach er sie auf ihre Familie an.
Yalia starrte in die Tiefen ihrer Tasse. „Sie haben ihr eigenes Leben, Meister Chen. Ich habe sie verlassen, damit sie Frieden finden konnten. Ich will nicht Chaos über sie bringen.“
„Glaubt Ihr denn nicht, es würde ihnen noch mehr Frieden schenken, wenn sie wüssten, dass es Euch gut geht und dass Ihr hoch angesehen seid?“ Er zuckte mit den Schultern und setzte ein Lächeln auf. „Ich mache mir Sorgen, wann immer ich Li Li nicht sehen kann. Eure Familie macht sich sicher ähnliche Sorgen, oder …“ Da fiel ihm etwas ein, und er unterbrach sich.
Sie blickte auf. „Oder?“
„Es war kein würdiger Gedanke, Schwester Yalia.“
„Teilt ihn doch bitte trotzdem mit mir. Selbst wenn ich zu dem Schluss käme, dass er in der Tat unwürdig ist, wären wir zumindest ehrlich miteinander.“ Sie legte die Pfote auf seinen Unterarm. „Bitte, Meister Chen.“
Einen Moment lang unterbrach nur das Knistern und Knacken des kleinen Lagerfeuers die Stille zwischen ihnen, dann nickte er. „Ich habe mich gefragt – und nur weil ich dasselbe manchmal über Li Li denke –, ob es vielleicht Euer Friede ist, den Ihr wahren wollt, nicht ihrer.“
Ihre Pfote kehrte an ihre Tasse zurück. Yalia hielt sie so, dass Chen die Reflexion der Sterne im Tee sehen konnte. „Das Kloster hat mir tiefen Frieden geschenkt.“
„Man kann nie voraussehen, wie andere reagieren. Ich denke, Eure Familie wäre froh, Euch zu sehen. Vielleicht wird eine kleine Schwester Euch übelnehmen, dass sie all Eure Pflichten erledigen musste, vielleicht wird Eure Mutter beklagen, dass sie keine Enkel hat, die sie verwöhnen könnte. Doch selbst wenn dem so wäre, in meinen Augen sind das nur kleine Verstimmungen verglichen mit der Freude, zu wissen, dass Ihr lebt und glücklich seid.“
„Machen eine stille Nacht und warmer Tee schwierige Weisheiten angenehmer?“
„Keine Ahnung. Meine Nächte sind nur selten still, und ich werde auch nur selten beschuldigt, weise zu sein.“ Er trank etwas Tee und ließ ein wenig von seiner Schnauze tröpfeln, um sie zum Lächeln zu bringen.
Sie streckte die Pfote aus und wischte die Tropfen fort. „Ihr seid weise genug, den Faxenmacher zu spielen, wenn es nötig ist. Das macht es leichter, Eure Ideen zu akzeptieren. Und die Wahrheit darin zu erkennen.“
Chen konnte sein Lächeln nicht verbergen, aber er hielt es zumindest so schmal, dass es nicht stolz wirkte. „Dann werdet Ihr also Eure Familie besuchen.“
„Ja, aber erst morgen. Im Moment möchte ich nur eine weitere friedliche Nacht mit warmem Tee und einem aufmerksamen Freund genießen. Außerdem muss ich nachdenken. Ich möchte nicht versuchen müssen, ihnen zu erklären, warum ich nicht bin, was ich in ihren Augen sein sollte, sondern einfach nur mit ihnen teilen, was ich bin.“
Der nächste Tag brach warm und hell an, was Chen als gutes Omen interpretierte, als er gemeinsam mit Yalia ihre Familie aufsuchte. Die Weisenweiden waren natürlich schockiert über die Rückkehr ihrer Tochter, und einen Teil dieser Überraschung überspielten sie, indem sie Chen umso herzlicher willkommen hießen, weil er der Onkel der berühmten wilden Hündin Li Li war. Augenscheinlich hatte sie seinen Namen erwähnt und die Rettungsmannschaften angespornt, indem sie ihnen beschrieb, wie hart er sie bestrafen würde, falls sie unter seinem Kommando bei der Arbeit trödelten.
Yalias Vater, Tswen-luo, durchschaute diese Geschichte beinahe sofort, da er sich als Leiter der Fischerflotte hinter einer ganz ähnlichen Maske verstecken musste. Die beiden teilten außerdem eine Vorliebe für Bier, und wie männliche Pandaren es eben so tun, waren sie schon bald dabei, einander unter den Tisch zu trinken. Zwischen zwei Gläsern stimmte Tswen-luo schließlich zu, dass Chen in Zouchin eine Sturmbräu-Brauerei eröffnen sollte, und bot an, das Unternehmen zu finanzieren, im Gegenzug für einen bescheidenen Anteil am Gewinn und lebenslang Freibier.