„Es sind trotzdem Kett’n.“ Vol’jin verbeugte sich vor Cuo. „Ich bedaure den Verlust deiner Brüder.“
Der Mönch erwiderte die Geste. „Ich bin dankbar für deinen Mut.“
Tyrathan blickte zu ihm auf. „Wer ist die Frau? Warum …?“
„Wir werd’n später noch Zeit haben, darüber zu red’n. Jetzt habe ich erst einmal eine Frage an dich, mein Freund. Und ich brauche eine ehrliche Antwort. Es ist wichtig.“
Der Mensch nickte. „Nur zu.“
„Hat Chen dir erzählt, was ich dem Mensch’n sagte, den wir befreit haben?“
„Dass ich tot sei und dass du mich getötet habest? Ja.“ Tyrathan lächelte halbherzig. „Schön, zu wissen, dass es eines der besten Krieger der Horde bedurfte, um mich umzubringen. Aber das ist wohl kaum die Frage, die ich dir beantworten soll, oder?“
„Nein.“ Vol’jin runzelte die Stirn. „Der Mensch wollte wissen, wo du bist. Er war voller Furcht, aber auch voller Hoffnung. Er wollte, dass du noch lebst und ihn rettest, aber er hatte auch Angst davor. Warum?“
Kurz schwieg Tyrathan und kratzte mit einem dreckigen Fingernagel den Schmutz unter einem anderen hervor. Er blickte nicht auf, als er den Mund wieder öffnete. „Du warst am Schlangenherz in meinem Körper, als der Sha des Zweifels mich mit seiner Energie berührte. Du hast den Mann gesehen, der mir meine Befehle gab. Nun, der Mensch, den du gerettet hast, war Morelan Vanyst, sein Neffe. Mein Vater war vor mir ein Jäger, so wie sein Vater vor ihm, und wir standen schon seit Urzeiten im Dienst der Vanyst-Familie. Bolten Vanyst, mein Herr, ist ein arroganter Geck und seine Frau ein intriganter alter Drachen. Darum gefällt es ihm auch so gut in Sturmwind – wann immer es einen Feldzug gibt, kann er ihr entfliehen. Nicht, dass er nicht auch selbst Ränke schmieden würde. Er hat nur drei Töchter, und jede ist mit einem ehrgeizigen Mann verheiratet, der sich Hoffnungen auf Boltens Land macht und sich darum bei ihm einschmeichelt. Doch wenn er aus der Stadt ist, hat Morelan das Sagen.“
Vol’jin sah, wie bei diesen Worten Emotionen über das Gesicht des Menschen huschten. Stolz leuchtete hell in seinen Augen, als er vom treuen Dienst seiner Familie sprach, nur um von Abscheu verschluckt zu werden, als er die Intrigen in der Familie seines Herrn beschrieb. Tyrathan hatte offensichtlich sein Bestes getan, diesem Herrn zu dienen, doch eine Person wie Bolten Vanyst war nie wirklich zufriedenzustellen, und man konnte ihr nie wirklich vertrauen. Insofern war er Garrosh gar nicht unähnlich.
„Jeden anderen hätte der Sha des Zweifels von innen heraus zerrissen. Er hätte sie hinterfragen lassen, ob sie überhaupt wert sind zu leben. Sie hätten an ihrem eigenen Verstand und ihren Erinnerungen gezweifelt. Der Sha hätte sie überzeugt, dass jede Entscheidung, die sie treffen könnten, falsch wäre, und sie hätten sich im selben Herzschlag selbst zerstört. So wie ein Maultier, das man zwischen zwei gleichermaßen appetitlichen Strohhaufen anbindet, würden sie inmitten des Überflusses verhungern, weil sie sich einfach nicht für eine Sache entscheiden könnten.“
Nun hob der Mensch zu guter Letzt den Blick. Müdigkeit hatte seine Schultern gebeugt und die Falten eines ganzen Lebens in sein Gesicht gegraben. „Doch zu mir kam der Sha des Zweifels als Kerze in der dunkelsten Stunde meines Lebens. Ich zweifelte bereits an jedem, und in diesem Moment sah ich die Wahrheit. Über alles.“
Vol’jin nickte ermutigend, sagte aber nichts.
„Ich habe eine Tochter, gerade einmal vier Jahre alt. Als ich das letzte Mal zu Hause war, wollte sie mir vor dem Zubettgehen eine Geschichte erzählen, von einer Schafhirtin, die sich mit der Hilfe eines gütigen Wolfes gegen einen bösen Jäger zur Wehr setzte. Ich erkannte die Geschichte, und ich nahm an, dass sie die Rollen von Jäger und Wolf vertauscht hatte, weil einer der gilnearischen Flüchtlinge, die in unser Dorf gekommen waren, sie darauf gebracht hatte. Doch als der Sha mich berührte, sah ich die Wahrheit.
Meine Frau war die Schafhirtin, so sanft und gütig, so unschuldig und liebevoll. Ironischerweise begegnete ich ihr zum ersten Mal, als ich Jagd auf ein Rudel Wölfe machte, das ihre Herde dezimierte. Ich kann nicht sagen, was sie in mir sah, aber für mich war sie vollkommen. Ich warb um sie und gewann ihr Herz. Sie ist das Beste, was mir je widerfahren ist.
Doch leider bin ich ein Mörder. Ich töte, um meine Familie zu versorgen. Ich töte, um mein Heimatland zu schützen. Ich kann nichts erschaffen, nur zerstören. Diese Tatsache zerfraß ihre Seele. Zu wissen, dass mir das Töten so leicht fiel, dass ich alles töten könnte, machte ihr Angst. Mein Leben und das, wozu ich geworden war, zersetzten ihre Liebe und ihr eigenes Leben.“
Tyrathan schüttelte den Kopf. „Die Wahrheit, meine Freunde, ist, dass sie recht hatte. Als ich fort war, um meine Pflichten zu erfüllen, kamen sie und Morelan sich nahe. Seine Frau war Jahre zuvor bei der Geburt ihres Kindes gestorben. Sein Sohn ist mit meinen Kindern befreundet, und meine Frau neigte schon immer dazu, sich um andere zu kümmern. Ich ahnte nichts, oder vielleicht wollte ich es auch nur nicht wahrhaben, aus Furcht, ich würde erkennen, dass er meinen Kindern ein besserer Vater wäre als ich, und meiner Frau ein besserer Ehemann.“
Einen Moment lang kaute er auf seiner Unterlippe herum. „Als ich ihn sah, da wusste ich, dass er, angespornt von der Nachricht meines Todes, beweisen wollte, dass auch er tapfer sein konnte. Darum kam er nach Pandaria, und sein Onkel benutzte ihn wie einen Stein auf einem Spielbrett. Seine Flucht wird alles beweisen, was er beweisen wollte. Man wird ihn als Helden feiern. Dann kann er nach Hause zurückkehren und bei seiner Familie sein.“
„Aber es ist deine Familie.“ Vol’jin studierte das Gesicht des Menschen. „Liebst du sie denn nicht mehr?“
„Doch, von ganzem Herzen.“ Tyrathan fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Der Gedanke, sie nie wiederzusehen, wird mich Stück für Stück umbringen.“
„Und doch opferst du dein Glück für das ihre?“
„Was ich tue, habe ich schon immer getan, um ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen.“ Er hob den Kopf. „So ist es vermutlich am besten. Du hast mich gesehen, hast gesehen, wie ich in jener Nacht gekämpft habe. Ich habe besser gezielt als je zuvor, weil ein Teil von mir wollte, dass Morelan meine Handschrift erkennt. Zu morden ist das Einzige, worauf ich mich verstehe, Vol’jin. Ich bin gut darin. So gut, dass ich irgendwann meine Familie umbringen würde.“
„Das ist eine schwere Entscheidung, die du da getroff’n hast.“
„Und ich zweifle jeden Tag an ihr, aber ich werde nicht nachgeben.“ Tyrathans grüne Augen wurden schmal. „Warum all diese Fragen?“
„Weil auch ich schwere Entscheidungen treff’n muss, deinen nicht unähnlich, aber von größerer Reichweite.“ Der Troll seufzte schwer. „Und ganz gleich, wie ich mich entscheide, Völker werden blut’n, und viele werd’n sterben.“
Seine drei Gefährten begnügten sich mit dem Wissen, dass er ihnen mehr erzählen würde, wenn er dazu bereit war; dadurch bewiesen sie, dass sie bessere Freunde waren, als er in seinen eigenen Augen verdient hatte. Sie vertrauen darauf, dass ich die richtige Entscheidung treffe. Und das werde ich auch. Ich werde die Entscheidung treff’n und mit den Konsequenz’n leben. Aber ich werde nicht der Einzige sein, der von ihnen betroff’n ist.
Die Zandalari-Besatzung genoss es, ihn zu quälen, aber sie hielt sich natürlich zurück. Die vier Gefangenen erhielten anständiges Essen, alle aus demselben Topf, aber die beiden Pandaren und der Mensch bekamen zuerst ihre Portionen. Vol’jin gab man dann, was noch übrig war; in der Regel war das nicht sehr viel, der verbrannte Rest vom Boden des Topfes, und als er es dann bekam, war es meist schon kalt. Wenn seine Kameraden sich darüber beschwerten, bekam niemand etwas, darum ermunterte Vol’jin sie, den Mund zu halten und zu essen.
Gleichermaßen brachte man die anderen mittags an Deck, damit sie ein wenig frische Luft schnappen konnten, während Vol’jin vor Morgengrauen zum Bug geschubst wurde, wenn das Schiff sich drehte, sodass die Wellen ihn durchnässten. Der Dunkelspeer ließ Wasser und bitterkalte Winde ohne Klage über sich ergehen, und insgeheim freute er sich, dass die Kälteresistenz, die er sich während seiner Zeit im Kloster angeeignet hatte, ihm nun so gute Dienste erwies.