Tyrathan blickte zu ihm hinab. „Ich weiß, dass du meine Fähigkeiten im Kampf schätzt, aber ich werde sie nicht in den Dienst der Zandalari stellen.“
„Eigentlich hatte ich ja gehofft, dass du sie in meinen Dienst stell’n würdest, mein Freund.“ Mit einer einfachen Handbewegung zerbrach Vol’jin die weichen Goldglieder in der Mitte der Kette. „Sie hab’n dieses Gefängnis so gebaut, dass kein Zandalari daraus entkommen kann. Aber ich bin mehr als ein Zandalari. Ich bin ein Dunkelspeer. Ich bin ein Schattenjäger. Es ist Zeit, dass wir ihnen zeig’n, was für einen schrecklich’n Fehler sie gemacht hab’n.“
27
Die Erleichterung der anderen war deutlich spürbar, und auch in Vol’jins Brust löste sich ein Knoten. Er war selbst überrascht gewesen, dass er Khal’aks Angebot nicht sofort und rundheraus abgelehnt hatte. So gerne er glauben wollte, er hätte nur gezögert, weil sie seine Freunde in ihrer Gewalt hatte, war es doch nicht die ganze Wahrheit. Und dass er sich jetzt eines Besseren besann, nur weil er erkannt hatte, dass Khal’aks Angebot seine Begleiter nicht vor Kriegsfürst Kao retten würde, war ebenso unwahr. Er hatte ihr Angebot nicht ablehnen können, ohne erst gründlich darüber nachzudenken, und es anzunehmen, war erst unmöglich geworden, als er herausgefunden hatte, für welche Familie er wirklich kämpfen wollte.
Der Troll nickte und hielt seine Stimme weiter gesenkt. „Das Erste, was wir tun müssen, ist …“
„Darum haben wir uns schon gekümmert.“ Tyrathan blickte über seinen Kopf hinweg. „Zwölf Wachen. Acht von ihnen in Zweiergruppen im Norden, Süden, Westen und Osten. Allesamt Gurubashi, denen man diese Aufgabe als Strafe aufgebürdet hat. Die vier anderen sind Zandalari, sehr jung und unerfahren, drüben bei der Straße, wo es wärmer und trockener ist und man nicht ständig von Ungeziefer geplagt wird.“
Vol’jin zog die Augenbraue hoch.
„Ich verstehe Zandali, schon vergessen? Die Wachen beschweren sich ohne Unterlass, und die Beleidigungen, die zwischen den Gruppen hin und her geworfen werden, sind schrecklich.“
Chen streckte sich. „Der Rahmen um die Tür besteht aus Pfosten, die noch grün sind. Auf der Seite mit dem Schloss sitzt alles fest, aber nicht auf der Seite mit den Angeln. Die unteren Schrauben hab ich schon fast ganz herausgedreht, und die Schrauben oben haben das Holz zersplittert.“
Nun wandte Vol’jin sich erwartungsvoll dem Mönch zu.
Bruder Cuo nickte. „Die Wachinspektion beginnt in fünfzehn Minuten nördlich von hier. Wachwechsel ist alle acht Stunden, das nächste Mal um Mitternacht, sofern das, was Tyrathan gehört hat, stimmt.“
Vol’jin stemmte die Hände gegen die Schenkel und erhob sich, dann verbeugte er sich vor seinen Freunden. „Zwei Stund’n später, und ihr wärt bereits ausgebrochen.“
„Nun, Kao will sie tot sehen, und mir sagt die Aussicht hier nicht zu.“ Der Mensch erwiderte die Verbeugung. „Wir hätten uns auf die Suche gemacht und unterwegs vielleicht den ein oder anderen Donnerkönig niedergestreckt, um uns die Zeit zu vertreiben.“
„Der Donnerkönig wird von Mogu, Saurok und riesig’n Qilen beschützt. Und durch Magie natürlich. Man bräuchte eine Armee, um eine Audienz bei ihm zu bekomm’n.“
Chen runzelte die Stirn. „Dann fliehen wir also?“
Vol’jin nickte. „Wenn wir eine Invasion verhindern wollen, ja.“
Bruder Cuos Brauen wanderten nach oben. „Würden wir dieses Ziel nicht eher erreichen, indem wir den Donnerkönig töten?“
„Vergiss nicht, Herrscher kommandier’n Armeen, aber sie selbst können ein Land weder einnehm’n noch halt’n.“ Der Schattenjäger lächelte kühl. „Wenn wir die töten, die sein Reich für ihn zurückerobern soll’n, schaden wir ihm dadurch mehr. Das wird schlimmer für ihn, als ins Grab zurückkehren zu müss’n.“
Mitternacht kam und ging und mit ihr, wie vorausgesagt, der Wachwechsel. Die Soldaten der neuen Schicht gewöhnten sich schnell ein, indem sie Decken um ihre Körper schlangen und diesen Dienst verfluchten, bei dem sie nicht einmal ein Lagerfeuer entzünden durften. Vol’jin hatte derartige Klagen in vielen Militärlagern gehört; sich über die Kälte oder das Essen oder anmaßende Offiziere zu beschweren, machte neunzig Prozent der Unterhaltungen unter der Truppe aus und diente vor allem dazu, Langeweile oder Furcht fernzuhalten. Es war reine Gewohnheit, und die Welt der Soldaten schrumpfte dabei auf einen winzigen Punkt zusammen, an dem sie außer ihrer Unterhaltung kaum noch etwas registrierten.
Während Tyrathan und Cuo Wache hielten, kümmerten sich Vol’jin und Chen um die Tür. Der Pandaren packte die Gitterstangen, um sich dagegenzustemmen, und der Troll verdrehte den Türrahmen. Indem sie möglichst gleichmäßig Druck auf den Käfig ausübten, hofften sie, möglichst wenige auffällige Geräusche zu verursachen.
Als Vol’jin seine Hände um den Pfosten legte, schnaubte er verächtlich. „Dieses Gefängnis könnte nicht mal einen Gnom halt’n.“ Der Türrahmen war nicht tief genug im Boden verankert. Da sich jedes Loch, das man in diesem Sumpf grub, fast sofort mit Wasser füllte, hatten die Arbeiter vermutlich so lange gegraben, bis sie auf halbwegs festen Schlamm gestoßen waren, und hatten die Pfosten dann darin versenkt.
Der Troll drehte den Pfahl wie einen wackeligen Zahn, und er löste sich mühelos aus seinem Bett. Chen tat anschließend auf der anderen Seite dasselbe, und nun konnten sie die Tür mitsamt dem Rahmen aus dem Käfig drücken. Der Riegel glitt geräuschlos aus dem Schloss, und Vol’jin hatte einen Grund mehr, seine Entscheidung nicht zu bereuen.
Hier im Sumpf zu sterb’n wäre besser, als einen Haufen Schwachköpfe zu kommandier’n.
Chen und Cuo schlüpften aus dem Käfig in den Schlamm, dann schlichen sie zu den Soldaten am westlichen Wachtposten hinüber. Sie schalteten die beiden Gurubashi fast lautlos aus, und die Geräusche, die dabei doch entstanden, hätte man ebenso gut für die Schritte einer Wache halten können, die ins Gebüsch stapfte, um sich zu erleichtern. Tyrathan und Vol’jin huschten zu den beiden hinüber, und jeder nahm sich einen Dolch. Die Knüppel, die die Trolle ebenfalls getragen hatten, eigneten sich derweil die Pandaren an.
Im Verlauf der nächsten fünfzehn Minuten schalteten sie nacheinander die Posten im Süden, Osten und Norden aus, wobei Vol’jin darauf verzichtete, Magie einzusetzen. In seinen Augen war keine dieser Wachen würdig, durch die Künste eines Schattenjägers zu sterben. Kurz bevor zwei Zandalari zu ihrem Rundgang aufbrachen, eilten Chen und Cuo zurück zum östlichen Wachposten, und Tyrathan zerrte die Leichen tiefer in den Sumpf, auf dass sich die Drachenschildkröten der Insel an ihnen gütlich täten. Vol’jin schlüpfte währenddessen in eine der Gurubashi-Uniformen und kauerte sich unter einer Decke zusammen.
Zur vollen Stunde näherten sich die zwei Zandalari dem nördlichen Posten. Einer von ihnen, der kleinere der beiden – der aber trotzdem noch größer war als der Schattenjäger –, verpasste Vol’jin einen Tritt in die Seite. „Steh auf, fauler Hund. Wo ist dein Kamerad?“
Vol’jin brummte und deutete in den Sumpf hinaus, und als die Zandalari sich umdrehten, um in diese Richtung zu blicken, sprang er auf und schlang einem von ihnen die Decke über den Kopf. Instinktiv hob der Krieger die Hand, um sie wegzuziehen, was Vol’jin Gelegenheit gab, ihm seinen Dolch dreimal in rascher Folge in die Eingeweide zu rammen. Beim ersten oder zweiten Hieb musste er eine Arterie getroffen haben, denn als er die Klinge zurückzog, spritzte Blut hervor, heiß und klebrig.