Etwas, das er mit ganz Pandaria teilt.
In Pandaria war alt ein relativer Ausdruck. Die Große Schildkröte war alt, die Gebilde auf ihr waren alt, aber nichts davon fühlte sich so altehrwürdig an wie das Kloster. Chen war zwischen Gebäuden aufgewachsen, die der alten Architektur der Pandaren nachempfunden waren, doch gegen die Inspiriertheit des Originals nahmen sie sich aus wie die Sandburg eines Kindes. Nicht, dass die Häuser seiner Heimat nicht schön gewesen wären, es war eben nur nicht dasselbe.
Nachdem er angemessen lange in seiner Verbeugung verharrt hatte, richtete Chen sich wieder auf. „Was kann ich für Euch tun?“
„Ein Schreiben Eurer Nichte hat uns erreicht. Wie von Euch gewünscht, hat sie die Brauerei besucht und dort erklärt, dass Ihr für eine kurze Weile fort sein werdet. Sie wird jetzt zum Tempel des Weißen Tigers weiterziehen.“ Der Mönch neigte unmerklich den Kopf. „Wofür ich dankbar bin. Der Geist Eurer Nichte ist … unbändig. Ihr letzter Besuch …“
Chen nickte hastig. „War auch ihr letzter. Es ist schön, zu sehen, dass Bruder Huon-Kai nicht länger humpelt.“
„Sein Körper und sein Geist haben sich erholt.“ Taran Zhus Augen wurden schmal. „Bei Eurem letzten Flüchtling scheint jedoch nur eines von beidem genesen zu sein. Es gibt Anzeichen dafür, dass der Troll wieder zu Sinnen gekommen ist, aber seine Wunden heilen nur langsam.“
„Oh, das ist ja wundervoll. Ich meine, nicht, dass seine Wunden so langsam heilen, sondern dass er wieder wach ist.“ Beinahe hätte Chen Taran Zhu den Besen in die Hand gedrückt, doch dann verharrte er. „Ich werde ihn auf dem Weg zur Krankenstation wegräumen.“
Der ältere Pandaren hob die Pfote. „Im Augenblick schläft er. Wir müssen uns unterhalten, wegen ihm und wegen des Mannes, den ihr zuvor hierher gebracht habt.“
„Ja, Meister.“
Taran Zhu drehte sich um, und einen Wimpernschlag später war er bereits auf einem windumtosten Fußweg, den Chen noch nicht freigefegt hatte. Dabei bewegte der Mönch sich so anmutig, dass seine Seidenrobe kein bisschen raschelte, und im Schnee hinter ihm konnte Chen nicht einmal den Hauch von Fußspuren erkennen. Im Vergleich dazu kam er sich vor wie eine Donnerechse mit Steinfüßen, als er hinter dem alten Pandaren hereilte.
Der Mönch führte ihn eine Treppe hinunter und durch dunkle, schwere Türen in düstere Korridore. Chen hatte sich ein paarmal freiwillig gemeldet, diese Gänge zu fegen, aber dabei hatte er mehr Zeit damit verbracht, die Linien und Bögen der Reliefs auf dem Steinboden zu bewundern, als tatsächlich den Besen zu schwingen.
Ihr Marsch endete in einem großen, von vier Lampen erhellten Raum, in dessen Mitte der Steinboden einem runden, mit Riedmatten ausgelegten Bereich Platz machte. Im Zentrum dieses Kreises stand ein kleiner Tisch mit einer Teekanne, drei Tassen, einem Rührstab, einer Schöpfkelle aus Bambus, einer Teedose und einem kleinen gusseisernen Topf.
Und vor dem Tisch kniete Yalia Weisenwisper, die Augen geschlossen, die Pfoten in ihrem Schoß.
Chen konnte nicht umhin zu lächeln, als er sie sah, und er hatte den leisen Verdacht, dass Taran Zhu genau wusste, wie breit dieses Lächeln war. Yalia hatte bei seinem ersten Besuch im Kloster sofort seine Aufmerksamkeit erregt, und zwar nicht nur, weil sie wunderschön war. Ihm war der Hauch der Außenseiterin aufgefallen, der die Pandaren-Mönchin umwehte; und er hatte bemerkt, dass sie sich nach Kräften bemühte, diesen Zug zu unterdrücken. Sie hatten ein paar kurze Gespräche geführt, die Chen noch Wort für Wort im Kopf hatte, und er fragte sich, ob sie sich wohl auch noch daran erinnerte.
Yalia stand auf und verbeugte sich, erst vor Taran Zhu – eine ganze Weile lang – und dann vor Chen – nicht ganz so lange. Chen achtete auf sie und neigte dann ebenso lange den Kopf vor ihr. Anschließend bedeutete Taran Zhu ihm, sich an das schmale Ende des rechteckigen Tisches zu setzen, wo er dem gusseisernen Topf am nächsten war. Chen und Yalia nahmen kniend Platz, und nun setzte sich auch Taran Zhu.
„Zwei Dinge, Meister Sturmbräu. Ich hoffe, Ihr könnt sie mir nachsehen. Zuerst einmal möchte ich Euch bitten, Tee zu machen.“
„Es wäre mir eine große Ehre, Meister Taran Zhu.“ Chen blickte auf. „Jetzt?“
„Sofern es Eure Aufmerksamkeit nicht mindert und Ihr gleichzeitig zuhören könnt.“
„Ja, Meister.“
„Und zweitens hoffe ich, es stört Euch nicht, dass ich Schwester Yalia eingeladen habe. Ich glaube, ihr Blick auf die Dinge könnte sich als äußerst hilfreich erweisen.“
Yalia neigte den Kopf – und Chen spürte einen Anflug von Erregung, als er dabei ihren freiliegenden Nacken sah –, sagte aber nichts, und so blieb auch Chen stumm. Stattdessen begann er den Tee zu machen, und sofort fiel ihm dabei etwas auf, an das er sich noch nicht recht gewöhnt hatte, obwohl er während seines Aufenthalts in Pandaria so viel Zeit hier im Kloster verbrachte.
Der Deckel des gusseisernen Topfes war mit dem Motiv einer Meereswoge verziert, die Teekanne aus Terrakotta hatte die Form eines Schiffes, und ihr Griff war einem Anker nachempfunden. Diese Utensilien waren nicht willkürlich gewählt worden; sie bargen eine Botschaft. Doch worauf sie hindeuten mochten, blieb Chen ein Rätsel.
„Schwester Yalia, draußen in der Bucht ist ein Schiff. Es liegt völlig stabil auf den Wellen. Wie kommt das?“
Behutsam nahm Chen eine Schöpfkelle heißen Wassers aus dem Topf, dann legte er lautlos wieder den Deckel darauf, um Yalia nicht zu stören, während sie nachdachte. Anschließend goss er das Wasser in die Teekanne und gab vorsichtig gemahlenen grünen Tee aus der Dose hinzu. Deren Deckel zierten rote Vögel und Fische vor einem schwarzen Hintergrund, und über ihre Seite zog sich eine Reihe von Symbolen, welche die Bezirke von Pandaria darstellten.
Yalia blickte auf, und ihre Stimme war so sanft wie die ersten Blütenblätter eines Kirschbaums. „Ich würde sagen, es ist das Wasser, Meister. Das Wasser stabilisiert das Schiff. Es ist seine Grundlage, der Zweck seiner Existenz. Ohne das Wasser, ohne den Ozean würde es kein Schiff geben.“
„Sehr gut, Schwester. Du würdest also sagen, das Wasser ist wie das Tushui – um den Ausdruck zu bemühen, der auf Shen-zin Su so weit verbreitet ist –, die Basis, die Meditation, die Reflexion. Wie du ausgeführt hast, gäbe es ohne das Wasser keine Grundlage für die Existenz des Schiffes.“
„Ja, Meister.“
Chen beobachtete ihr Gesicht, aber nichts deutete darauf hin, dass sie nach Zustimmung suchte. Ihm wäre das nicht gelungen; er hätte wissen wollen, ob er richtiglag. Doch dann überlegte er, ob Yalia vielleicht schon wusste, dass sie recht hatte. Meister Taran Zhu hatte sie schließlich nach ihrer Meinung gefragt. Ihre Antwort konnte also gar nicht falsch sein.
Die Zungenspitze ragte um eine Winzigkeit aus seinem Mundwinkel hervor, als er das Wasser und den Tee in der Kanne mit dem Rührstab vermischte, gleichzeitig energisch und behutsam. Das Ziel war nicht, den Tee zu zerstoßen, sondern ihn in das heiße Wasser übergehen zu lassen. Er rührte von außen nach innen, dann wieder nach außen, und so schnell, dass die beiden so unterschiedlichen Elemente schon bald grün schäumend im Bauch des kleinen Terrakottaschiffes hin und her schwappten.
Taran Zhu deutete auf die Kanne. „Manch einer würde natürlich darauf beharren, dass es der Anker ist, der dem Schiff Stabilität verleiht. Denn würde der Anker das Schiff nicht an Ort und Stelle halten, würde es von Wind und Wellen gegen die Küste gedrückt. Der Anker, der fest auf dem Meeresboden ruht, rettet das Schiff. Ohne ihn wäre es nichts.“
Yalia neigte den Kopf. „Wenn Ihr erlaubt, Meister: Ihr sagt also, der Anker ist wie das Huojin. Er ist der impulsive, entschlossene Akt. Er steht zwischen dem Schiff und seiner Zerstörung.“
„Sehr gut.“ Der alte Mönch blickte zu Chen hinüber, als dieser eine letzte Kelle dampfenden Wassers hinzufügte und den Deckel dann wieder auf den Teekessel legte. „Habt Ihr verstanden, worum es bei unserer Diskussion ging, Chen Sturmbräu?“