Khal’ak taumelte von der Wucht des Schlages nach hinten, aber ihre Beine wollten sie nicht länger tragen, und so brach sie zu Füßen des toten Mogu zusammen. Voller Hass starrte sie zu ihm auf, während ihr Gesicht lila anlief und sie noch einen letzten Atemzug zu nehmen versuchte.
Der Versuch misslang.
Die Zandalari-Truppen standen reglos da, und der Unglaube war ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Khal’ak war tot. Ihr Hauptmann war tot. Zwei Mogu waren tot. Und viel zu viele ihrer Kameraden waren ebenfalls tot oder lagen ächzend und sterbend hier drinnen oder draußen in ihrem eigenen Blut. Die verbliebenen Gurubashi und Amani begannen sich bereits zurückzuziehen, die hinteren Reihen dünnten sich aus.
Vol’jin nahm die Gleve wieder in die rechte Hand. „Bwonsamdi wartet schon darauf, euch zu begrüß’n.“
Etliche Zandalari erschauderten bei diesen Worten und schlossen sich den niederen Trollen bei ihrer Flucht in den Schneesturm an. Die wenigen, die blieben, griffen an, aber Taran Zhu trieb sie auseinander, als wären sie ein Schwarm Mücken, den man einfach fortwischen konnte. Knochen brachen, Körper krümmten sich, Trolle ächzten auf dem Boden.
Schließlich trat Taran Zhu zurück und hob sanftmütig die Pfote. „Kümmert Euch um sie! Aber nicht hier. Ihr dürft gehen.“
Als wäre seine Erlaubnis ein Befehl, verschwanden auch die letzten der Zandalari nach draußen. Ein paar von ihnen zerrten Verwundete hinter sich her, als sie davoneilten. Chen und Yalia humpelten ebenfalls zwischen den Blutlachen und Leichen hindurch zum Ausgang des gegenüberliegenden Flügels, um den Feind weiter im Auge zu behalten. Taran Zhu und Vol’jin traten derweil zu Tyrathan hinüber.
Helles Blut tropfte von den Lippen des Menschen, aber er lächelte schwach. „Ich stecke fest.“
Vol’jin blickte auf den Speer hinab. Die Spitze hatte eindeutig Tyrathans Wirbelsäule durchbohrt und seine Eingeweide aufgerissen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, verfügte die Waffe über zwei breite Parierzacken; sie konnten den Mann also nicht einfach von der Waffe ziehen, und die Spitze saß zu tief in der Wand, als dass sie sich ohne Weiteres lösen ließe. „Halt still! Ich kenne einen Zauber …“
Der Mensch schüttelte den Kopf, dann zischte er, als der alte Mönch seinen Rücken um die Austrittswunde betastete. „Nein. Ich bin erledigt. Wir haben gut gekämpft. Ich kann zufrieden sterben.“
Der Troll schluckte schwer. „Närrischer Mensch. Du sollst nicht zufried’n sterben.“
„Versuch nicht, mir zu erzählen, dass ich überleben werde.“ Tyrathan seufzte. „Lass mich gehen! Es ist gut so.“
Er versteifte sich, als der Speer sich bewegte, dann klirrte etwas hinter ihm, und er kippte nach vorne. Taran Zhu fing ihn auf, und Vol’jin half ihm, den Jäger auf den Boden zu betten. Tyrathans Augen waren geschlossen, der Dunkelspeer wusste also nicht, ob er ihn noch hören konnte, aber er redete dennoch weiter auf den Menschen ein. „Ich werde dich nicht sterb’n lassen. Ich habe den Kerl nicht erledigt, der dich erwischt hat, außerdem schuldest du mir noch einen Pfeil für Garrosh.“
Er schloss die Hände um die Wunde, wo der Speer den Menschen aufgespießt hatte, und nickte Taran Zhu zu. Der Mönch rüttelte erst sanft am Schaft, dann zog er die Klinge aus Tyrathans Körper. Die vorderen vier Zoll der Speerspitze steckten noch immer in der Wand, und die blutbefleckte Bruchstelle sah aus, als wäre das Metall durch Materialermüdung geborsten. Vol’jin hatte keine Ahnung, wie der Pandaren es geschafft hatte, die Klinge abzubrechen, und er hatte im Moment auch keine Zeit, darüber nachzudenken.
Seine Hände pressten sich auf die Wunde, aber das Blut des Menschen quoll weiter zwischen seinen Fingern hindurch. Also stimmte Vol’jin eine Beschwörung an. Goldene Energie sammelte sich in seinen Handflächen und strahlte nach unten in Tyrathans Körper, bis sie den Boden erreichte, dann wurde sie wieder nach oben zurückgeworfen. Die Magie traf erst Yalia, dann Chen, dann wanderte ihr goldener Schimmer weiter, zu einem Mönch, der unter einem Berg aus Leichen begraben war.
Vol’jin wartete darauf, dass Tyrathan sich rührte, aber er wollte das Schicksal des Menschen nicht allein der Magie überlassen. Darum schloss er die Augen und suchte. Diese Suche war weder langwierig noch anstrengend, denn Bwonsamdis Gegenwart hüllte das gesamte Kloster ein.
„Den hier kannst du nicht hab’n.“
„Bist du so dreist, dass du einem Loa vorschreiben willst, was er tun kann und was nicht?“
Sen’jins Stimme hallte in Vol’jins Ohren wider. „Vielleicht wollte er nur sagen, dass es noch zu früh ist, den Menschen zu empfangen.“
„Ja. Da sind Versprech’n, die eingehalten werden müss’n, Verpflichtungen, die erfüllt werd’n wollen.“
Der Gott des Todes lachte. „Wäre das genug, um mich umzustimmen, wäre mein Reich verwaist, und niemand würde mehr sterben.“
„Das Versprech’n eines Schattenjägers.“ Vol’jin reckte das Kinn hoch. „Ist das vielleicht genug, um dich umzustimm’n?“
Der Geist des Loa zuckte mit den Schultern. „Du hast mir heute reiche Ernte verschafft.“
„Er ebenfalls.“
„Wohl wahr. Und draußen in der Kälte werden noch viele mehr sterben. Sollte einer überleben, um zu berichten, was hier geschehen ist, wird man ihn entweder für verrückt erklären oder ihn wegen Feigheit hinrichten lassen.“ Bwonsamdi lächelte. „Die Seidentänzerin wird sich über das Netz freuen, das du ihr gewoben hast. Also gut, du kannst den Menschen haben. Fürs Erste.“
„Danke, Bwonsamdi.“
„Aber nicht für immer, Vol’jin.“ Das Loa verschwand mit einem Flüstern. „Nichts währt für immer.“
Tyrathans Körper erbebte, seine Muskeln zuckten, dann entspannte er sich wieder, und seine Atmung wurde gleichmäßiger.
Vol’jin richtete sich auf und wischte das Blut an seinen Schenkeln ab. „Ich habe alles geheilt, was ich heilen kann.“
Taran Zhu lächelte. „Ich glaube, wir wissen, wie wir ihn wieder auf die Beine bekommen.“
Der Troll stand auf. Der Boden war mit Körpern bedeckt, aber nichts bewegte sich, abgesehen vom spielerischen Wirbeln des Schnees und dem Blut, das die Stufen vor dem Eingang heruntertropfte. Es wurde träger, als die Kälte danach griff, und dann erstarrte es zu etwas, das man leicht für Kerzenwachs hätte halten können. So harmlos, so weit entfernt von der Wahrheit.
Doch die Toten waren nicht wichtig. Während Chen und Yalia zu dem anderen überlebenden Mönch gingen, um ihn unter dem Berg aus Leichen zu befreien, bückte sich Vol’jin und hob den Menschen auf seine Arme. „Geht voran, Meister Taran Zhu. Die Zeit für die Heilung ist gekommen.“
Chen steckte die letzte brennende Räucherkerze in den sandgefüllten Bronzetopf und verbeugte sich vor den Regalen.
Nachdem Yalia dort die letzte der geschnitzten Figuren aufgestellt hatte, gesellte sie sich zu ihm und verbeugte sich ebenfalls. Sie verharrten lange in dieser Position, während weißer Rauch, der nach Fichten und Meerwasser roch, über die steinernen Statuetten hinwegwaberte, welche sie aus den Tiefen des Berges heraufgeholt hatten.
Als sie sich wieder aufrichteten, wanderte ihre linke Pfote in seine rechte.
„Du hast mir während der letzten Tage Stärke geschenkt, Chen Sturmbräu.“ Yalia hielt den Blick schüchtern gesenkt. „Wir mussten so viele betrübliche Pflichten erfüllen. Alleine hätte ich es nicht ertragen.“
Er hob ihr Gesicht mit der freien Pfote an, sodass sie zu ihm aufsehen musste. „Ich hätte nie von hier fortgehen können, Yalia.“
„Nein, natürlich nicht. Die Gefallenen waren auch deine Kameraden.“
Er schüttelte den Kopf. „Du weißt, das ist nicht, was ich meine.“
„Ich weiß, dass du nach deiner Nichte sehen möchtest.“
„Und nach deiner Familie.“ Chen nickte zu den Steinfiguren hinüber. „Die Invasion der Zandalari ist noch nicht vorbei. Der Mogu-Kaiser lebt noch, und seine Zandalari-Truppen wollen noch immer Pandaria erobern.“