Sie nickte. „Ist es selbstsüchtig von mir, zu wünschen, dass es vorbei ist?“
„Ich glaube, sich Frieden zu wünschen ist nie selbstsüchtig.“ Chen lächelte. „Zumindest hoffe ich das, denn auch ich will Frieden. Ich will ihn, weil meine Heimat dann nicht länger von Furcht beherrscht wird. Und weil ich dann nie mehr von dir getrennt sein muss.“
Yalia Weisenwisper beugte sich vor und küsste ihn. „Genau dasselbe will ich auch.“ Sie schob sich noch näher heran, schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. „Ich würde mit dir gehen …“
„Du wirst hier gebraucht.“ Er erwiderte die Umarmung, wollte sie gar nicht mehr loslassen. „Und du weißt, dass ich zu dir zurückkommen werde. Daran darfst du nicht zweifeln.“
Sie löste sich von ihm, und obwohl sie lächelte, begannen Tränen in ihren Augen zu glänzen. „Ich habe weder Zweifel noch Angst.“
„Gut.“ Chen streichelte ihre Wange, dann küsste er sie auf Lippen und Stirn. Sie fühlte sich perfekt an im Kreis seiner Arme, und er atmete ihren Geruch tief ein, während er ihre Wärme in sich aufsog. „Und denk auch daran, dass wir noch viele, viele Jahre vor uns haben, bevor wir aus den Knochen des Berges fallen. Ich möchte, dass wir so viel von dieser Zeit wie nur möglich zusammen verbringen. Denn der einzige Ort, wo ich mich wirklich und völlig zu Hause fühle, ist bei dir.“
Vol’jin fand Tyrathan auf dem Rand seines Bettes sitzend, seine Mitte war noch immer mit einem Verband umwickelt. Der Mensch hatte es geschafft, mit seinen Füßen in ein Paar Hausschuhe zu schlüpfen, was der Troll als Zeichen dafür betrachtete, dass allmählich wieder das Gefühl in seine Beine zurückkehrte. Vor zwei Tagen wären derartige Versuche noch zum Scheitern verurteilt gewesen.
„Der Berg läuft dir schon nicht weg.“
Tyrathan lachte. „Oh, der kann warten. Ich habe meinen besten Dolch in den Tunneln in einem toten Zandalari stecken lassen. Ich hatte gehofft, ihn mir zurückzuholen.“
„Ich wünschte, du hättest mehr Dolche mitgenomm’n.“
Der Mensch nickte. „Ich auch. Als ich dort runterstieg, dachte ich, ich würde nie wieder das Tageslicht sehen.“
Khal’aks Elitetruppen waren durch die Tunnel unter dem Kloster heraufgeklettert und hatten die Mönche im Schneewehen-Dojo überwältigt, doch Tyrathan war ihnen bei ihrem ersten Ansturm entgangen. So hatte er Gelegenheit gehabt, in die unterirdischen Gänge hinabzusteigen, und Vol’jin hatte gesehen, was für ein Blutbad er dort angerichtet hatte. Der Mensch hatte den Zandalari nachgesetzt, die von unten in die Versiegelten Kammern eindringen sollten, und etliche von ihnen waren unter seiner Hand gefallen. Da Pfeile in der Düsternis der Tunnel nutzlos waren, hatte er sie mit Schwert und Dolch und Steinen, so groß wie sein Kopf, erschlagen. Vol’jin war aber sicher, dass sie noch längst nicht alle seiner Opfer geborgen hatten, denn einige von ihnen waren gewiss davongekrochen und dann irgendwo in den Gängen verendet.
„Ich bin froh, dass du es da raus geschafft hast. Du hast mein Leb’n gerettet.“
„Und du meines.“ Tyrathan senkte den Blick, und der Anflug eines Lächelns krümmte seine Lippen. „Als ich sagte, dass du mich sterben lassen sollst …“
„Da haben die Schmerz’n aus dir gesprochen.“
„Ja, aber nicht die körperlichen Schmerzen.“ Der Mensch sah auf seine Hände hinab, die geöffnet und dankbar auf seinen Schenkeln ruhten. „Ich glaube, der Gedanke, tot zu sein, gefiel mir, weil ich so meiner Pein hätte entkommen können – der Pein wegen meiner Familie. Aber ich konnte einfach nicht vergessen, wie du deine Entscheidung begründet hast, dich gegen die Zandalari zu stellen. Dass diese Entscheidung, hierzubleiben und zu kämpfen, auf Mut und Ehre beruht und auf einem Gefühl der Zugehörigkeit, einem Gefühl von Familie.“
„Die meist’n würden vermutlich noch Torheit hinzufüg’n.“
„Und sie hätten recht, aber aus den falschen Gründen.“ Tyrathan seufzte. „Meine Bereitschaft zu sterben entbehrte jeglichen Mutes. Und ganz gleich, wer ich bin, ich will nicht ohne Mut und Ehre leben.“
Vol’jin nickte. „Eine gute Einstellung. Außerdem gibt es hier noch viel zu tun, was diese beiden Eigenschaft’n voraussetzt – und einige weitere. Zum Beispiel das Auge eines geübt’n Schützen.“
„Ich weiß. Ich werde dir einen Pfeil für Garrosh befiedern.“
„Aber erst musst du dich um andere Dinge kümmern, richtig?“
„Du hast zu viel über mich gelernt, als du in meinem Kopf warst.“
Vol’jin schüttelte den Kopf, dann legte er dem Menschen beide Hände auf die Schultern. „Das meiste habe ich gelernt, als ich an deiner Seite war.“
Tyrathan lächelte. „Ich werde noch ein wenig hierbleiben, mich erholen, den Mönchen helfen. Dann will ich mein Versprechen einlösen, noch einmal die Täler meiner Heimat zu sehen. Dass ich verschwunden bin, ist vielleicht das Beste für mich, aber ich würde mich selbst belügen, wenn ich weiterhin glaubte, es wäre auch das Beste für meine Familie. Meine Kinder sollen mich kennenlernen, und meine Frau soll wissen, dass ich es verstehe. Ich werde nicht wiedergutmachen können, was geschehen ist, aber das ist besser, als mit einer Lüge zu leben. Für mich ebenso wie für sie. Das ist keine Schwelle, die ich überschreiten möchte.“
„Ich verstehe. Durch diese Entscheidung beweist du, dass du tapferer als die meist’n bist.“ Vol’jin trat zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und ich bin sicher, du wirst mir meinen Pfeil geb’n, wenn die Zeit gekommen ist, ihn einzusetz’n.“
„Genauso vertraue ich darauf, dass du den Kerl erledigen wirst, der mich erwischt.“ Der Mensch stemmte sich unsicher auf die Beine hoch. „Aber ich hoffe, dass noch viele Jahre vergehen, bevor du dieses Versprechen einlösen musst.“
Vol’jin stand in der Mitte der künstlichen Insel im Herzen des Tempels, wo er den Mogu getötet hatte, und blickte hinaus auf den Hain der Fallenden Blüten. Dort war alles unter einer weißen Decke begraben, und der Troll konnte nicht sagen, ob es sich bei den kleinen Unebenheiten im Schnee um gefrorene Leichen oder doch nur um Felsbrocken handelte. Die weißen Flocken, von denen einige durch den Wind wieder in die Luft emporgewirbelt wurden, verbargen alles unter ihrer Unschuld.
Und zumindest einen Moment lang ließ Vol’jin sich von ihnen zu dem Gedanken verführen, dass es Frieden auf der Welt gab.
Taran Zhu trat an seine Seite. „Friede ist ein natürlicher Zustand. Ihr könnt ihn hier genießen, so lange Ihr wollt.“
„Ihr seid äußerst gütig, Meister Taran Zhu.“
Der Pandaren lächelte. „Aber Ihr werdet ihn nicht genießen, solange Ihr solltet.“
„Das wäre egoistisch.“ Vol’jin wandte sich zu ihm um. „Der Fried’n, den Ihr mir anbietet, wäre mir zwar willkomm’n, aber letzt’n Endes wäre ich darin ebenso gefangen wie in einem Totenschädel oder einem Helm.“
Taran Zhu hob den Kopf. „Glaubt Ihr wirklich, Ihr habt die Geschichte verstanden?“
„Ja. In dem Gleichnis ging es nicht um Schädel oder Helme, sondern um die Grenz’n, die man sich setzt, wenn man eine Rolle akzeptiert. Eine Krabbe, die sich als Krabbe sieht, wird nicht durch den Panzer definiert, in dem sie Schutz sucht, sondern durch ihren Zwang, Schutz zu such’n. Ich bin keine Krabbe. Meine Zukunft soll nicht dadurch bestimmt werd’n, welche schützend’n Schalen ich finde. Nein, mir stehen mehr Möglichkeit’n offen.“
„Und mehr Verpflichtungen stehen Euch bevor.“
„Allerdings.“ Der Troll atmete tief ein und dann langsam wieder aus. Garrosh hatte die Horde betrogen und würde es auch weiterhin tun; es lag in seiner Natur. Er ließ sich von seinen selbstsüchtigen Wünschen und Ängsten beherrschen, und er würde sich nie ändern. Im Gegenteil, er würde noch viele schreckliche Dinge tun, nur um seine Position zu festigen. Das Blut würde in Strömen fließen, bis es schließlich zu einer so mächtigen Flut würde, dass Garrosh selbst davon mitgerissen und fortgespült würde.