»Wenn Sie die Knochen gesehen hätten, würden Sie anders reden.«
»Ich habe in meinem Leben schon viele Menschenknochen gesehen - das kannst du mir glauben, Freundchen. Doch im Gegensatz zu dir macht mir dieser Anblick nichts aus. Also gut, geht Kamra trinken und esst was. Schürf, versuch doch, dieses Nervenbündel ein wenig aufzubauen. Ich gehe derweil ins Leichenschauhaus. Ich denke, in einer halben Stunde ist unser toter Freund gesprächig. Es gibt also noch was für dich zu tun, Max.«
»Wollen nicht Sie mit ihm reden?«, fragte ich erstaunt.
»Wenn du willst, kann ich mit jedem reden, auch mit Magister Nuflin Moni Mach. Aber bei wiedererweckten Toten ist das eher aussichtslos. Die reagieren auf alle Fragen ganz gleichgültig, weil sie - wie soll ich sagen? -nichts zu verlieren haben. Aber du bist ein Glückspilz, und darum gelingt es dir vielleicht, ihm etwas zu entlocken.«
Fassungslos sah ich meinen Chef an. »Das ist ja ganz was Neues. Ist diese Verantwortung nicht etwas zu groß für mich?«
»Du musst dich wohl langsam daran gewöhnen«, meinte Juffin, lächelte spöttisch und verschwand im Flur. Schürf und ich blieben mit einem Tablett aus dem Fressfass zurück. Trotz all der nekrophilen Eindrücke war mein Appetit zum Glück nicht geringer geworden.
»Schürf, findest du die ganze Geschichte nicht ziemlich seltsam, selbst für hiesige Verhältnisse? In Echo lebt ein gewisser Mochi Fa. Er ist eigenwillig und nörglerisch, spürt aber ab und an das Bedürfnis, jede Bitte zu erfüllen - von Befehlen ganz zu schweigen. Ich bin mir sicher, dass er diese weiche Phase nur bei Vollmond erlebt. Und unser Kannibale hat offenbar davon gewusst -auch dessen bin ich mir gewiss. Er war aber nicht fit in Astronomie, und das wurde ihm zum Verhängnis. Er kam einfach zu früh zu Mochi, um »Komm mit!* zu sagen. Mochi war empört. Ich habe zufällig selbst gesehen, wie er seinem Gast den Vogel gezeigt hat. Zum Glück konnte ich mich am nächsten Tag noch an diese Geste erinnern, an dem Tag also, als Mochi ihm lammfromm folgte. Und schließlich ist bei diesem Fall - um uns Ermittlern das Leben noch schwerer zu machen -auch eine Brille wichtig, durch die Mochis Gesicht in seltsamem Licht erscheint.«
»Warte, Max, nicht so schnell«, unterbrach mich Lonely-Lokley. »Ich weiß, was du meinst, denn ich kenne die Legende, die sich um Brillen und Mondphasen rankt.«
»Dann schieß los - ich kenne sie nämlich nicht.«
»Bedenk bitte, dass ich kein besonders guter Erzähler bin. Die Legende geht so: Vor sehr langer Zeit, noch vor der Geburt von König Mjenin nämlich, existierte in dieser Welt der mächtige Clan der Mondbullen. Leider weiß ich nicht mehr genau, wie sie lebten und womit sie sich beschäftigten. Diese Mondbullen gediehen prächtig, bis sie eines Tages mit ihrem Gönner, dem Mond, in Streit gerieten. Die Einzelheiten kenne ich leider nicht. Ich weiß nur, dass der Mond von seinen Anhängern die Befolgung seltsamer Rituale verlangte, und das haben die Mondbullen abgelehnt.«
»Vielleicht waren sie einfach zu faul dazu«, vermutete ich kichernd.
»Max, du lachst, hast aber durchaus Recht. Die Faulheit des Menschen ist oft Ursache unbegreiflicher Tragödien. So war es auch im Fall der Mondbullen: Der Fluch des Trabanten erreichte sie, und sie zerstreuten sich über die ganze Welt, vermischten sich mit anderen Menschen und verloren so ihre Kraft und ihre mystische Verbindung zu unserem rätselhaften Himmelsbegleiter. Man nimmt an, dass viele Nachfolger der Mondbullen durchaus erfolgreich, aber auch sehr eigensinnig sind. Allerdings lassen sie sich kaum von normalen Menschen unterscheiden - nur bei Vollmond sind sie erstaunlich weich«, sagte Lonely-Lokley und sah gedankenverloren in die Ferne. ••Die Legende gefällt mir nicht besonders. Man nimmt an, diese Menschen warten darauf, dass der Mond aufgeht und ihnen sagt: -Kommt mit!* Dann wird sich der alte Clan erneut finden und wieder an die Macht gelangen. Aber denk daran: Es gibt auch Nachkommen der Mondbullen, die von ihrer Identität nichts wissen und sich nur bei Vollmond ein wenig ändern. Ihrem Schicksal haftet durchaus etwas von einem Fluch an.«
»Du bist ein fantastischer Erzähler, Schürf. Deine Geschichte war präzis und klar. Aber was ist mit der Brille? Was weißt du darüber?«
»Gar nichts, aber mein logisches Denken flüstert mir, dass jemand eine Methode entdeckt haben muss, die Nachkommen der Mondbullen zu erkennen. Und ich vermute, dass die Brille genau diesem Zweck dient.«
»Nach unserem Ausflug in die Welt des Kannibalismus kann ich nur fragen: um sie zu essen?«
»Das könnte durchaus der Grund sein«, meinte Lonely-Lokley ruhig. »Wer einen Menschen isst, verleibt sich einen Teil seiner Macht ein. Es lohnt zwar nicht, normale Menschen zu verputzen, aber mächtige Zauberer zu verspeisen, zeigt durchaus Wirkung. In der Ordensepoche war das gang und gäbe, obwohl solche Taten - anders als ungebildete Menschen glauben - keine besondere Bedeutung hatten. Vielleicht ist jemand auf die Nachkommen der Mondbullen scharf, um sich ihre Macht einzuverleiben. Das halte ich für eine plausible Erklärung. Ich würde mich also nicht wundern, wenn du Recht hättest.«
Verlegen und bescheiden wie ich war, konnte ich bei dieser Bemerkung nur die Augen verdrehen. Eigentlich aber brannte ich vor Neugier und wollte Sir Schürf fragen, ob er schon an solchen Mahlzeiten teilgenommen hatte. Vor meinem inneren Auge sah ich ihn gierig an einem Knochen nagen.
»Schockiert dich das etwa?«, fragte Lonely-Lokley kopfschüttelnd. »Das finde ich aber seltsam. Dem Toten kann es doch egal sein, wie man mit ihm umgeht. Oder hast du Angst, dass du auch mal jemanden verspeisen musst? Keine Sorge, die Ordensepoche ist seit Jahrzehnten vorbei. Außerdem gibt es bessere Wege, sich die Kraft anderer einzuverleiben.«
»Steht mir der Schock denn so deutlich im Gesicht?«, fragte ich schuldbewusst.
»Inzwischen nicht mehr.«
»Max, dein Patient ist fertig. Auf in die Leichenhalle!«
»Der Chef hat sich per Stumme Rede bei mir gemeldet und mich zu sich gebeten. Schürf, kommst du mit?«, bat ich Lonely-Lokley. »Das würde mich beruhigen.«
»Gut, gehen wir. Ich bin auch gespannt.«
Wir gingen zusammen in das kleine Zimmer, das im Haus an der Brücke als Leichenhalle diente.
Juffin saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden. »Setzt euch zu mir, Jungs«, rief er freundlich. »Schaut euch dieses wunderbare Produkt meiner geschickten Hände an. Ich hatte gehofft, mich nie mehr mit so was beschäftigen zu müssen.«
Der Tote lag in einem zerknitterten dunklen Lochimantel reglos in der Ecke.
»Meine Reanimationsversuche sind nicht sehr erfolgreich gewesen«, meinte Juffin. »Hätte ich es gründlicher machen wollen, hätte ich einige Tage dafür gebraucht. Darum hat der Bursche ziemliche Probleme, sich zu bewegen, aber das ist auch gut so. Ich habe nämlich keine Lust, ihn wieder einzufangen. Ich glaube, er kann mit mir reden, doch leider will er nicht sprechen.«
»Aber mit mir wird er sicher reden«, sagte ich etwas gereizt. »Was bleibt ihm schon anderes übrig?«
Ich war seltsam überzeugt, meine Kugelblitze abfeuern und darauf achten zu müssen, mich nicht von meinen Emotionen überwältigen zu lassen. Ich rechnete damit, Juffin und Schürf würden einen Wasserfall von Ratschlägen auf mich einregnen lassen, aber Fehlanzeige: Sie warteten ruhig ab, bis ich mich daranmachte, den Toten zu verhören.
Ich zügelte meine rasenden Gedanken und schnippte mit der Linken. Ein kleines, durchsichtiges Feuer erschien auf meinen Fingerspitzen, fuhr gegen die Brust des Toten, flammte auf und verschwand.
»Ich stehe Euch zu Diensten, Herr«, sagte der Tote sanft.
Ich seufzte sichtlich erleichtert. Juffin sah mich belustigt an, sagte aber nichts. Ich wandte mich ihm zu: »Brauchen Sie außer der Adresse noch weitere Informationen?«