»Nein, das zweite Wesen ist kein Mensch, aber ich weiß noch nicht, worum es sich sonst handelt. Sei jetzt endlich still und rechne mit allem.«
Jetzt wirkte sogar Lonely-Lokley ziemlich beunruhigt -falls das überhaupt möglich war.
Wir betraten den großen Bungalow. Es war absolut still.
»Hier ist niemand«, flüsterte ich.
»Sie sind unten«, flüsterte Schürf zurück. »Ich spüre sie im Keller.«
Wir gingen die kleine Treppe runter. Meine Augen wurden langsam zu denen eines echten Bewohners von Uguland, und ich konnte sehr gut im Dunkeln sehen.
»Wir müssen noch tiefer runter«, erklärte Schürf.
Also nahmen wir eine noch kleinere Treppe, die diesmal nicht aus Stein, sondern aus Holz war. Höchst konzentriert betrat ich Stufe für Stufe und dachte an Sir Juffin und seine philosophischen Erwägungen über Treppenstürze und andere Lebensrisiken. Doch auch diesmal passierte mir nichts.
Ich stieg die schmale Treppe so vorsichtig runter, dass ich fast gestürzt wäre. Grelles Licht blendete mich. Ich sah nur, dass sich Lonely-Lokleys Linke hob. Aufs Schlimmste gefasst, ging ich in die Hocke und erwartete, vor meinen Augen werde sich eine große Schlacht mit allen Helden der Vergangenheit zutragen. Doch es passierte etwas ganz anderes: Schürf senkte die Hand, und ein wenig silberne Asche rieselte dort auf den Boden, wo eben noch Baka Bugwin gestanden hatte.
»Das war es schon?«, fragte ich etwas enttäuscht. »Sind wir so schnell mit ihm fertig geworden?«
»Wie immer«, sagte Schürf achselzuckend. »Aber das war noch nicht alles. Baka Bugwin haben wir erledigt,
aber hier hält sich noch jemand auf. Wir müssen ihn möglichst rasch finden. Am besten wäre es, wenn er zu uns runterkäme. Pass auf - ich rufe ihn jetzt.«
Schurfs leuchtende Hände malten im Dunkeln seltsame Muster. Ihr Nachbild blieb lange auf meiner Netzhaut zurück und hatte etwas Hypnotisches. Die Magister mögen wissen, wozu diese Trance gut war. Zum Glück war sie schnell vorbei.
»Er kommt nicht«, sagte Sir Schürf enttäuscht. »Versehentlich habe ich dich statt seiner verzaubert. Also müssen wir ihn suchen gehen, Max. Es ist zwar nicht besonders angenehm, ihm in diesem riesigen Keller nachzuspüren, aber ich sehe keine andere Möglichkeit.«
»Na gut. Um was für ein Wesen handelt es sich denn?«
»Um ein mir unbekanntes Wesen. Vielleicht ist es sogar gefährlich - wir werden ja sehen.«
Plötzlich klopfte eins meiner Herzen an den Brustkorb.
»Schürf«, rief ich, »lass uns gehen! Jetzt bin ich ...«
Mich überkam eine warme Welle fremder Wahrnehmungen, und ein paar Minuten lang war ich nicht mehr ich selbst. Aber in der dunkelsten Ecke meiner Seele blieb mir etwas Bewusstsein erhalten und gab mir leise zu verstehen, dass es keine Wunder mehr wollte, sondern davon träumte, endlich nach Hause zurückzukehren und nie wieder in eine gefährliche Situation zu geraten. Plötzlich öffnete ich mich einer ganz neuen Bewusstseinsschicht, glaubte, drei fünfzigjährige Kiefern zu sein, verlor mich dann, fand mich wieder und sah mich von außen als ein in Fell gewickeltes Wesen.
Dann kehrte alles schnell und leicht zum Normalzustand zurück - vielleicht verdächtig schnell, aber ich war trotzdem zufrieden, schielte auf das unbewegte Gesicht von Lonely-Lokley und musste lachen. Jetzt war mir alles klar.
»Was war das?«, fragte Schürf erstaunt. »Was hat dich zum Lachen gebracht?«
»Das zweite Wesen ist ein schutzloses Tier. Es ist ein bemerkenswert großes Exemplar, stammt aber nicht aus dieser Welt. Ich weiß nicht genau, wie es aussieht, aber es hat Angst und möchte gestreichelt werden.«
»Gestreichelt?«, wiederholte Schürf etwas ratlos. »Bist du dir sicher? Na schön - aber wo ist es?«
Unsere Suche im dunklen Keller erschien mir zwar chaotisch, verlief aber nach einem mir unerfindlichen System, das Sir Schürf sich ausgedacht hatte. Die Abfolge seiner Bewegungen erinnerte mich ans Schachspieclass="underline" Wir machten ein paar Schritte nach vorn, dann ein paar zur Seite und dann wieder ein paar nach vorn. Ich verstand zwar nichts davon, stellte aber keine Fragen, denn Lonely-Lokley wusste Bescheid.
Nach etwa einer halben Stunde fanden wir, was wir gesucht hatten. Aus der Ecke eines kleinen Kellerraums sah uns ein erschrockenes, schwach schimmerndes Wesen an. Es wollte essen, und es wollte zu Mama, doch ich fürchtete, dass die gute Mama weit und breit nicht aufzutreiben war.
Vorsichtig ging ich über den unebenen Boden auf das Wesen zu und stolperte dabei ab und zu über Hindernisse, die sich später als Menschenknochen erweisen sollten.
»Max, wo willst du hin?«, fragte Schürf mich streng.
»Dieses Tier ist sicher ungefährlich«, sagte ich rasch. »Töte es bitte nicht. Ich glaube, es ist sehr sympathisch.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Lonely-Lokley skeptisch.
»Ja«, rief ich und stand neben dem seltsam schimmernden Wesen. »Schürf, du wirst staunen, aber es handelt sich um einen kleinen Bullen.«
Der Jungstier wollte meine Hand lecken, doch es gelang ihm nicht. Wir waren nicht aus einem Holz geschnitzt: Ich war ein Mensch aus Fleisch und Blut, und er war glibberig wie Gelee und ähnelte einem erst halb entwickelten Gespenst.
»Ein Stier, sagst du?«, fragte Schürf und schüttelte erstaunt den Kopf. »Jetzt verstehe ich allmählich. Gut, dass er noch klein ist. Wenn wir ein paar Jahre später gekommen wären Ich wollte vor allem den Rücken des Tiers streicheln. Er fühlte sich seltsam an - wie warmer Atem. Aber es gab dort noch etwas, das mir völlig unbekannt war.
»Das ist ein Mondstier, Max«, erklärte Lonely-Lokley, »ein echter Mondstier, der zum Glück noch ein Kalb ist. Die Legende sagt, das Mondlicht habe ihn geboren und er ernähre sich ausschließlich von den Herzen der besten Menschen. Jetzt erst ist mir klar, dass unter den -besten Menschen« vor allem die Nachkommen der Mondbullen zu verstehen sind. Irgendwann bekommt er einen richtigen Körper. Die Legende sagt, dann gehe die Welt zugrunde. Also muss ich den Mondstier töten. Außerdem ist seine Ernährungsweise zu gefährlich - findest du nicht auch?«
»Mach, was du willst!«, rief ich. »Diese Welt gefällt mir, und ich möchte nicht, dass sie untergeht. Aber jetzt verstehe ich Baka Bugwin. Wie jeder echte Dichter wollte er die Apokalypse herbeiführen. Warte bitte noch einen Moment. Ich muss all diese Erkenntnisse erst mal verdauen.«
»Tu das«, meinte Lonely-Lokley. »Unterdessen berichte ich Sir Juffin, was hier vorgefallen ist.«
Erneut streichelte ich unsere Entdeckung. Das Tier schnaufte leise und rieb sich an meinem Todesmantel. Jetzt war mir klar: Er muss einfach nach Hause zurückkehren wie jedes andere kleine Wesen, das sich verlaufen hat. Intuitiv schnippte ich mit den Fingern, und ein Kugelblitz traf seinen geleeartigen Körper. Der Stier sprach mich natürlich nicht an, sondern sah mir nur in die Augen und wartete, was weiter geschehen würde.
»Kehre dorthin zurück, woher du gekommen bist!«, befahl ich ihm. »Ich nehme an, dein Stall steht auf dem Mond, aber du weißt das sicher am besten.«
Das Tier schrumpfte zusammen, und nach einigen Sekunden stand nur noch eine winzige leuchtende Figur vor mir. Man musste schon genau hinsehen, um noch Ähnlichkeiten mit einem Stier zu erkennen.
»Sag Juffin, dass ich den Mondstier in seinen Stall geschickt habe«, sagte ich stolz zu Sir Schürf und ging zur Treppe zurück. »Und sag ihm, dass ich ein Genie bin, falls er noch nicht darauf gekommen sein sollte.«
Ich wollte unbedingt an die frische Luft. Als das sympathische Tier verschwunden war, merkte ich, dass ich es in dem schrecklichen Keller nicht länger aushalten konnte.
Auf dem Rückweg redete ich wie ein Wasserfall über die Dichter, vor allem über den verrückten Baka Bugwin und seinen apokalyptischen Traum. Ich weiß nicht, wie Sir Schürf mein Geplapper ausgehalten hat. Er ist sicher ein Heiliger.
Im Büro erwartete uns ein üppig beladenes Tablett aus dem Fressfass.