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Doch ausgerechnet in diesem Moment überkam mich die Lust, die Abenteuer von Sir Max aufzuschreiben. Ich kritzelte viele Servietten voll, bekam dann aber das Gefühl, wenn ich damit fertig wäre, würden mich alle Zauberkräfte verlassen.

Ich kann gar nicht aufzählen, was ich bei meinen Reisen um die Welt alles erlebt habe, und weiß nicht mehr, in welcher Reihenfolge sich diese Abenteuer zu trugen. Ich weiß nur, dass es mir nach Verzehr des Strammen Max leichtfiel, sie zu Papier zu bringen.

An diesem Tag schuf ich die erste, noch wacklige Brücke, die mich mit meiner Vergangenheit verband.

Immer öfter trat meinen irdischen Gesprächspartnern der Schreck in die Augen. Das machte mir Freude - zumal ich erst wieder nach Echo reisen konnte, wenn der von mir freigelassene Doperst seine Mission erfüllt hatte.

Ich erfuhr erstaunlich viel über die Ängste, die die Menschen mit sich herumschleppen. Am interessantesten waren in diesem Zusammenhang wohl die Radfahrer. Wie sich erwies, fürchten die meisten, einen Fußgänger anzufahren. Und weil ich seit meinem Rollentausch mit dem Doperst von den Ängsten der Menschen lebte, brauchte ich nur auf die Straße zu treten, damit mich ein Radfahrer anfuhr. Die ewigen Zusammenstöße bedeuteten für mich zwar keine ernste gesundheitliche Gefahr, doch sie gingen mir ziemlich auf die Nerven. Zum Glück hatte ich zu Autofahrern ein weniger gespanntes Verhältnis.

Aber es kam noch schlimmer. Bis heute kann ich ein groß gewachsenes Mädchen aus dem Restaurant Roter Elefant in der Altstadt von Erfurt nicht vergessen. Sie faszinierte mich so, dass ich ihr nachging und so in besagtes Lokal gelangte. Schließlich musste ich sie umbringen, denn sie dachte den ganzen Abend, sie werde mir zum Opfer fallen. Aber vielleicht habe ich das nur geträumt.

Wie seltsam es auch klingen mag: Dieses blutrünstige Abenteuer machte mir klar, dass meine sinnlose irdische Existenz bald vorbei wäre. Sir Max - das Nachtantlitz von Sir Juffin Halli - erwachte langsam wieder zum Leben und sehnte sich nach seiner Arbeit.

Eines schönen Tages geriet ich wieder nach New York. Ich spazierte durch SoHo, sah mir die Schaufenster der Galerien an und beschloss, in einer italienischen Bar einen Kaffee zu trinken. Der schwarzäugige Barista musterte mich ungerührt. Offenbar litt er unter keinerlei Ängsten - beneidenswert!

Ich setzte mich an die Theke. Kaum hatte ich den ersten Schluck genommen, schwankte mein Hocker so, dass ich beinahe umgefallen wäre. Mühsam konnte ich das Gleichgewicht halten und landete in den Armen eines sympathischen Mannes mit elegantem dunklem Hut und einer Lederjacke, wie Flieger sie tragen mögen.

»Entschuldigung!«, sagte er freundlich. »Ich habe nur mein Spiegelbild betrachtet und gemerkt, dass der vornehme Hut und die sportliche Jacke nicht zusammenpassen.«

»Stimmt, Sie sollten den Hut gegen einen Helm tauschen - oder gegen etwas anderes, das man als Flieger so trägt.«

»Am besten, Sie nehmen ihn«, meinte er, nahm den Hut ab und setzte ihn mir auf. »Er steht Ihnen wirklich gut und passt zu Ihrem Mantel. Verzeihen Sie die Aufregung, und genießen Sie Ihren Kaffee.«

Gedankenverloren sah ich ihm nach und befolgte seinen Rat. Der junge Barista lächelte und meinte: »Ron ist ein ziemlich exzentrischer Mensch - wie alle Künstler. Aber er ist nett und kommt oft vorbei.«

»Bei Ihnen gibt es ja auch ausgezeichneten Kaffee.«

»Ron trinkt nie Kaffee - höchstens Rotwein.«

Ich zahlte, trat auf die Straße und merkte, dass ich mich in Rom befand und der Morgen dämmerte. Das war mir schon ein paar Mal passiert - sehr zur Freude der hiesigen Tauben, die ich mit allem fütterte, was ich in meinen Taschen fand.

Ich fragte mich erstaunt, ob die New Yorker Bar wirklich Roma geheißen hatte. Dann merkte ich, wie müde ich war, setzte mich auf die nächste Treppe und schlief ein.

Die Kälte ließ mich erwachen. Ich sah mich um und stellte fest, dass ich auf einer Steinbrücke saß. Der Wind vom Fluss war so eisig, dass ich durchgefroren war. Noch vor kurzem war mir zu heiß gewesen, denn mein Mantel war zu dick für Rom.

Allem Anschein nach war ich also nicht mehr dort. Doch wo sonst? Die Stadt kam mir seltsam bekannt vor -genau wie der kalte Wind, der vom Fluss heranwehte.

Jetzt wusste ich, wo ich war: wieder in Nürnberg! Dort also, wo meine Odyssee begonnen hatte.

»Ich muss wirklich dringend zurück nach Echo«, sagte ich zu einer vorbeifliegenden Möwe. Der Vogel kreischte daraufhin unangenehm, als wollte er sagen: Mach schon!

Beim Verlassen der Brücke stieß ich auf ein Namensschild und musste lachen, denn ich war doch tatsächlich auf der Maxbrücke erwacht.

»Es macht Spaß, so beliebt zu sein«, sagte ich halblaut zu mir. »Was wird nicht alles nach mir benannt!«

In meinem Rücken lachte jemand kurz auf. Ich drehte mich um und erstarrte: Techi stand hinter mir! Sie war zwar etwas älter, als ich sie in Erinnerung hatte - aber immerhin. Mir schossen verschiedene Gedanken durch den Kopf. Als Tochter von Lojso Pondochwa beherrschte sie gewiss einige außergewöhnliche Tricks. Aber warum war sie so gealtert? Wie lange mochte ich schon nicht mehr in Echo gewesen sein? Zwei-, dreihundert Jahre? Oder gar ein Jahrtausend?

Ich erstarrte vor Schreck. Menschen, ohne die ich nicht leben konnte, schienen ohne mich weitergelebt zu haben. Ich vertat hier auf Erden kostbare Zeit, und sie arbeiteten in Echo, freuten sich des Lebens und alterten, und manche waren womöglich schon gestorben, ohne meine Rückkehr abzuwarten.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, und ich musste mich setzen.

»Techi, was machst du denn hier?«, fragte ich beklommen. »Was ist los mit dir?«

»Ich heiße Thea«, sagte die Unbekannte etwas überrascht. »Und mir ist nichts Schlimmes widerfahren. Sieht so aus, als hätten Sie mich mit jemandem verwechselt.«

Ich war so erleichtert, dass ich aufseufzte. Natürlich war das nicht meine Techi, sondern eine nette Dame mittleren Alters, die gewisse Ähnlichkeiten mit meiner Freundin hatte.

Ich brauchte dringend einen Spiegel, um herauszufinden, ob ich noch das Gesicht des guten alten Max hatte.

»Meine Frage klingt zwar etwas dumm, aber haben Sie einen Spiegel dabei?«, fragte ich und lächelte breit.

»Ja«, sagte die Frau und wirkte etwas verlegen.

»Geben Sie ihn mir doch bitte.«

Sie suchte ziemlich lange in ihrer Handtasche und gab mir schließlich eine Puderdose. Ich öffnete sie ungeduldig und musterte mein Gesicht. Mir fehlte wirklich ein Turban!

»Wissen Sie was?«, begann ich fröhlich, »Sie haben mir gerade das Leben gerettet. Kann ich mich dafür mit einer Tasse Kaffee revanchieren?«

Statt die Polizei zu rufen oder wortlos zu gehen, nickte die Frau nur energisch, und ihre silbernen Löckchen wippten. Sie hatte die gleichen Haare wie meine Techi.

»Wissen Sie«, sagte sie lächelnd, »ich glaube, das Leben ist etwas mehr wert als eine Tasse Kaffee. Ich bestehe darauf, mit Ihnen ein Glas guten Wein zu trinken.«

Dann sah sie auf die Uhr und zog ein finsteres Gesicht. »Ich sehe gerade, dass ich mich verspäten werde. Aber egal - wer ohnehin zu spät ist, kann den anderen auch mehr als eine halbe Stunde warten lassen. Eine Viertelstunde Verspätung ist spießig, finden Sie nicht?«

»Unbedingt«, versicherte ich ihr, hätte aber vermutlich jeder ihrer Behauptungen zugestimmt.

»Hier in der Nähe gibt es eine nette amerikanische Bar ohne weißblaue Tischdecken. Und weißt du ... wenn man mich siezt, fühle ich mich alt - können wir uns nicht duzen?«

Einmal mehr nickte ich eifrig.

»Ich hoffe, es ist kein Fehler, mit dir ein Glas Wein trinken zu gehen. Ich bin nämlich mit Freunden verabredet und muss danach noch mit dem Zug nach München.«

Offenbar hatte ich meine Beredsamkeit verloren, denn erneut fiel mir nichts anderes ein als energisch zu nicken.

»Wir sind da«, sagte Thea und zeigte auf eine kurze Straße, in der allenfalls zehn Häuser standen.