Kaum auf der Welt, dachte Mary, lag ich in Williams Armen, und er traute sich kaum, sich zu bewegen. Was mache ich hier bloß? Wie kann ich so grausam gegen ihn sein? Sie beugte sich vor, wischte die auf dem Boden verstreuten Haarsträhnen zusammen und schob sie in das Stoffknäuel. Wohin soll ich die Sachen verschwinden lassen? Soll ich sie mitnehmen? Himmel, ich verliere so viel Zeit. Das Bett! Zuerst sollte ich das Bett richten.
Mary zog ein Laken aus dem Schrank und legte es über ihre Schlafmatte. Konnte sie den alten Mann zurücklassen, ohne noch einmal das Wort an ihn zu richten? Aber er würde um jeden Preis versuchen, ihren Plan zu verhindern.
Der Stoffballen lag zu ihren Füßen, ihn konnte sie auf keinen Fall mitnehmen, er würde hinderlich bei ihrer Flucht sein. Sie hob ihn auf und öffnete die Verandatür in den Garten.
Geduckt huschte sie wieder an der Hausmauer entlang zum Beet hinüber, doch dieses Mal lief sie weiter bis zum Baldrianstrauch. Mit den Händen bog sie die Zweige beiseite und hob eine Mulde aus, in die sie das Stoffknäuel legte. Mehrfach drückte sie es zusammen, doch es ragte immer noch zu weit aus dem Boden heraus. Tiefer musste sie graben. Sie schob das Knäuel beiseite und griff nochmals in die kalte Erde. Ihr Ringfinger schrammte über einen Stein. Erde und Blut vermischten sich in der Wunde. Mary grub weiter, drückte den Stoff nochmals flach und schob Erde darüber, die sie festklopfte. Dann zog sie die Zweige des Baldrians darüber.
William wird vergehen vor Angst um mich, hielt sie sich vor, während sie zum Haus zurücklief.
Der hintere Trakt war bereits halb geräumt, und sie konnte nur spekulieren, wer Henriettes Favorit als künftiger Ehemann für die Nichte war. James Canaughy oder doch Landon Reed? Selbst wenn sie nicht gehen, sondern sich ins Bett legen und den morgigen Tag wie jeden anderen beginnen würde – das Haar war kurz. Wie sollte sie das erklären?
»Als die Beerdigung hinter uns lag, Mary, hoffte ich, dass Ruhe einkehren würde«, klang Williams Stimme ihr im Ohr. »Doch Euer Vater hatte nicht nur seine Frau verloren. Er hatte auch jede Kraft, den Glauben an sich und die Medizin verloren. Tagelang saß er im Sessel. Er ging nicht in die Kirche, nicht zu Bett, nicht in sein Behandlungszimmer. Sogar die Patienten musste ich nach Hause schicken.«
Geh weg, William. Geh aus meinem Kopf. Mary ließ sich aufs Bett fallen.
Doch die Stimme des alten Mannes verstummte nicht: »Und wenn man Euren Vater ansprach, nickte er nur. Das Essen, das ihm die Köchin hinstellte, rührte er nicht an. So beschloss ich, Euch zu ihm zu bringen. Ich dachte, wenn er Eure Wärme spürt, Euren Duft riecht, dann würde alles gut werden. Er sah Euch an. Ja, er hielt Euch. Aber seine Arme blieben steif und sein Blick leer. Und mit einem Mal fürchteten wir, auch ihn zu verlieren. An diesem Abend beobachtete ich die Köchin dabei, wie sie die Messer versteckte. Ich habe nichts dazu gesagt und bin zum Waffenschrank gegangen. Dort nahm ich alles, wirklich alles heraus, selbst das Schießpulver und die Putztücher, und brachte es in meine Kammer. Von diesem Tag an traute ich mich nicht mehr, Euren Vater aus den Augen zu lassen. Und so war ich immer in seiner Nähe, während er regungslos aus dem Fenster blickte. Die Köchin brachte mir Getränke, in die sie Pülverchen ihrer Kräuterfrau mischte, damit ich nicht einschlief. Einmal nickte ich doch ein, und als ich erwachte, saß sie neben mir, den Blick auf Euren Vater gerichtet.
Das Leben im Haus war zum Stillstand gekommen. Nur die Besuche der Amme zeigten uns, dass außerhalb das Leben weiterging. Eines Tages stand Euer Vater dann auf und ging ins Behandlungszimmer. Heimlich folgte ich ihm und sah, dass er eines der medizinischen Bücher ergriff. Er zerriss es. Er nahm ein zweites Buch und riss auch das in Fetzen. Dann rannte er mit den Blättern zum Kamin. Er schleuderte sie ins Feuer. Dabei brüllte und weinte er. Mary, so etwas habe ich nie wieder gehört. Von diesem Tag an hasste er, zumindest glaube ich das, die Medizin, die er bisher angewandt hatte. Aber mir war es gleich, ob er neue oder herkömmliche Methoden praktizierte. Er war wieder da, Mary. Bei uns.«
William, dachte sie, du hast geahnt, dass der Vater nicht von der Reise zurückkommen würde. Nun werde auch ich aus deinem Leben verschwinden. Wieder ein Abschied, ohne Lebewohl sagen zu können.
Mit verquollenen Augen verließ sie das Haus. Holte eines der Pferde aus dem Stall und führte es den Pfad entlang, damit man in der Stille nicht den Hufschlag ihrer Flucht vernehmen konnte. In einiger Entfernung wandte sie sich um. Verzeih mir, dachte sie, atmete ein letztes Mal den Geruch der Weizenfelder ein, saß auf und trieb das Pferd an, um im Galopp dem Schmerz zu entkommen.
London, 15. Juli 1785
Während Carl auf das Somerset House zulief, schüttelte er den Kopf. Seit die Royal Society in den Osttrakt dieses Gebäudes gezogen war, hatte es nichts als Ärger gegeben. Die Räume waren zu klein, vor allem fand sich kaum Platz für das naturwissenschaftliche Museum. Anfangs hatte ihn der Gedanke begeistert, ein Haus der Wissenschaften zu schaffen. Doch gleich bei der Besichtigung hatte er gewusst, dass das Beste an dem Haus die prächtige Fassade und der wunderbare Blick auf die Themse waren, die sich heute nicht silberfarben, sondern schlammbraun durch die Stadt zog.
Plötzlich sah Carl den Mann die Eingangstreppe herunterkommen, für den er die auf seinem Schreibtisch wartende Arbeit verschoben hatte. Er hatte richtig geschlussfolgert, dass Sir Wellington heute hier auftauchen würde. Unter dem Rundbogen, am Fuß der Treppe, verharrte der Philosoph und schaute missmutig zum Himmel auf.
Ja, du hast recht, es ist widerliches Wetter, dachte Carl, und ich bin mir sicher, dass der Tag für dich gleich noch unangenehmer werden wird. »Sir Wellington, wenn das nicht ein Zufall ist, dass wir uns begegnen. Zu gern wollte ich mit Euch noch einige Worte wechseln.«
Wellingtons Gesicht verzog sich für einen Augenblick, und wieder wurde die tiefe Falte auf seiner Stirn sichtbar.
»Sir Belham. Gott zum Gruße. Wie ich hörte, habt Ihr mit dem First Lord der Admiralität gesprochen?«
Carl nickte und sah sich mit Richard Howe beim Angeln an der Themse. Wie sie, es musste am Sonntag gewesen sein, im Sonnenschein die Beine ins kalte Wasser gehalten und darüber diskutiert hatten, ob es Lachse in der Themse gab. Howe hatte darauf bestanden, selbst vor Jahren einen aus dem Wasser gezogen zu haben. Carl hatte gelacht. Wenn man überhaupt jemals einen Lachs aus dieser Brühe gezogen hatte, musste es mindestens hundert Jahre her sein. Sie hatten geschworen, diese Frage zu klären, und Wetten abgeschlossen. Über die neuesten Entwicklungen in der Royal Society hatten sie nicht gesprochen. Keiner von ihnen hatte diesen Plänen Bedeutung beigemessen.
»Durchaus, das habe ich, und der First Lord sicherte mir zu, dass die Navy meiner Meinung sei.«
Wellington streckte das Kinn vor, dass die faltige Haut sich spannte. »Ich denke, dass dies uns nicht abhalten wird, der Royal Navy unseren Vorschlag zu unterbreiten.«
Bleib geduldig. Wiederhole deine Argumentation noch einmal. »Kapitän Taylor –«, begann er, doch Wellington fiel ihm sofort ins Wort.
»Der Mann ist nicht einmal ein richtiger Kapitän, er ist ein Leutnant, der aus einfachsten Verhältnissen stammt.«
Carl ignorierte den Einwurf und setzte erneut an. »Kapitän Taylor hat die bisherigen Vorbereitungen getroffen. Er hat die Mannschaft zusammengestellt und ohne Mühen die Sollstärke erreicht. Großteile der Mannschaft sind bereits unter diesem Mann gereist, sodass wir auf eine eingespielte Zusammenarbeit hoffen können. Auch bei der Wahl des Schiffes hat er auf Bewährtes zurückgegriffen. Für eine Kohlenbark aus Whitby hat er sich entschieden, einen soliden Dreimaster. Ein Schiffstyp, der auch schon Kapitän Cook auf seinen Reisen aufgrund seines geringen Tiefgangs und großen Laderaums gute Dienste erwiesen hat. Gewissenhaft hat er sich um die Ausstattung und den Ausbau des Schiffes gekümmert. Was spricht gegen ihn?«