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»Das ist die Protea cynaroides. Hier könnt Ihr die fleischfarbenen Hochblätter der Blütenstände sehen. Dort sind die blassrosa Staubgefäße. Diese Protea-Art ist in Francis Massons Treibhaus in Kews Garden zu sehen, dem Treibhaus, in dem die Pflanzen vom Kap der Guten Hoffnung ausgestellt sind. Dort gibt es weitere Proteae. Oder seht hier: Dies ist eine der hundertvierzig Erica-Arten, die dort kultiviert werden. Oder die Pelargonien, es gibt fünfzig Arten im Treibhaus. Wartet, ich zeige Euch …«, sagte sie und blätterte in den Unterlagen herum, bis Myers sie unterbrach.

»Mr. Middleton, ich verstehe, dass Ihr nervös seid, aber ich kann Euch versichern, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt.«

Er hat recht, bemerkte sie, ich benehme mich wie ein überspanntes Weib. Sie griff nach der Tasse und trank einen Schluck Tee, der inzwischen lauwarm war. Schweigend saß sie auf ihrem Stuhl, und ihr Blick folgte Myers’ Hand, die eine Zeichnung ergriff und sie hervorzog.

»Ah, eine Amaryllis belladonna. Sehr gut getroffen«, hörte sie ihn sagen und neigte den Kopf zur Seite, um das Bild noch einmal genauer zu betrachten. Tatsächlich, es war ihr gut gelungen.

»Ihr wart schon auf Exkursionen?«, fragte Myers, während er nun einen der Belege hervorzog.

»Ja, Sir. Francis Linley hat mich ausgebildet und mehrere Exkursionen in das Umland mit mir unternommen. Mit dem botanischen Arbeiten und dem Anlegen eines Herbariums bin ich vertraut.«

Konzentriert musterte Myers ein gepresstes Geißblatt.

Mary stellte die Tasse ab und nahm weitere Blätter aus der Mappe. »Diese Zeichnungen entstanden ebenfalls bei den Exkursionen. Eine Rose ohne Dornen, die Christrose. Und hier seht Ihr einen Admiral, einen Wanderfalter.«

»Wenn ich das recht beurteile«, Franklin Myers lächelte einen Moment, »kennt Ihr Euch in vielen Bereichen gut aus. Es würde mich freuen, Euch als Zeichner gewinnen zu können. Ich weiß nicht, ob Ihr mit den Tätigkeiten an Bord vertraut seid, aber es gibt immer die Möglichkeit, einander zur Hand zu gehen.« Er sprang auf und wühlte in den Unterlagen, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, wobei er ununterbrochen weitersprach: »In zwei Tagen werdet Ihr Euch bitte, spätestens gegen Mittag, auf der Sailing Queen melden. Wendet Euch an den Bootsmann Kyle Bennetter, er wird Euch das Achterdeck zeigen. Dort werden wir uns eine Kajüte teilen. Ihr müsst Euch nicht mehr um die Besorgung von Materialien und Arbeitsgeräten kümmern. Diese Dinge sind bereits von unserer Seite organisiert. Also, wenn Ihr dabei seid – ich bin Franklin!« Er hielt ihr die Hand entgegen, die Mary wortlos ergriff und, ohne zu verstehen, wie ihr geschah, schüttelte.

So einfach war das? So einfach, an Bord eines Forschungsschiffes zu kommen? An einer Entdeckungsreise teilzunehmen? Zu den Auserwählten zu gehören, die die Welt entdeckten?

Wie sie die Formalitäten geklärt, den Raum verlassen und Ebenezer Stone für immer hinter sich gelassen hatte oder wie sie in ihr Zimmer gekommen war, das konnte Mary nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. In ihrem Kopf gab es nur einen Gedanken: Sie war dabei. Sie würde auf Forschungsreise gehen und ihrem Vater und der Wissenschaft in den Weiten der Welt überall näher sein als hier in Plymouth.

Erschöpft lehnte sie ihre Stirn an die kühle Scheibe des Fensters und betrachtete die Bark, die, ihres Namens würdig, stolz im Hafen lag. In zwei Tagen würde sie, Mary Linley, Sir Carl Belhams Zeichner werden. In zwei Tagen würde sie als Marc Middleton den Dienst auf der Sailing Queen antreten.

Der Schmetterling hatte die Flügel geschlossen und seinen Platz gefunden.

Teil 2 

Plymouth, 18. Juli 1785

Zu gern hätte er mit Steinen nach ihnen geworfen. Seit er sich erinnern konnte, suchten Nat und er Steine. Zumeist waren es graue Kiesel, vom Wasser rund gewaschen, die sie auswählten. Sie nahmen sie hoch, befühlten die glatte Oberfläche, prüften, wie das Gewicht in der Hand lag. Dann suchten sie den Himmel ab, hoben den Arm, kniffen ein Auge zu, zielten und warfen die Steine nach den Möwen. Pfeilschnell schossen sie durch die Luft, doch bisher hatten sie nie einen Vogel erwischen können. Nur das eine Mal, kurz vor der Abreise, da hatte Nat eine Möwe am Hals getroffen. Sie war ins Trudeln geraten und in die Tiefe gestürzt. Ins schwarze Wasser, das beim Aufschlag des Körpers aufgespritzt war. Noch ein, zwei Zuckungen, dann war der Vogel mit ausgebreiteten Flügeln über die Wellen getrieben. Geschrien hatten sie vor Freude, bis ihre Stimmen brachen, und sich gegenseitig in die Hände geklatscht. Nat, der Möwenbezwinger, hatte Seth seinen Bruder an diesem Tag genannt.

Er schaute zu ihm hinüber. Ob ihn das Schreien der Möwen ebenso zermürbte? Mit dem Lappen wischte Nat über die Reling, setzte ab und trat einen Schritt zurück, um dann an einer Stelle das Messing sorgsam nachzupolieren. Seth wandte den Blick in die Höhe, vorbei an den Masten, bis er nur noch das Blau des Himmels und die kreisenden Vögel sah. Er schrak zusammen, als er einen Schlag im Rücken spürte, und fuhr herum.

Es war nicht der Vater, es war Dan, der dritte Schiffsjunge an Bord, der vor ihm stand. Er wusste sich lautlos zu bewegen und plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen, dass es einem unheimlich werden konnte. Die Hände in die Seiten gestemmt, schob Dan den Kopf vor. Durch eine Lücke zwischen den schiefstehenden Zähnen sog er zischend Luft ein. »Ey, du sollst arbeiten«, sagte er. Dann hob er das rechte Bein. Langsam trat er gegen Seths Eimer, der mit einem lauten Poltern umkippte. Das Wasser ergoss sich über die Planken, die sich kreisförmig dunkel färbten.

Vater darf nicht merken, dass wir herumstehen, anstatt zu arbeiten, durchfuhr es Seth. Hastig schaute er an Dan vorbei über das Deck. Sein Vater stand nur wenige Meter entfernt und kehrte ihnen den Rücken zu.

Nat kam herüber und hob den Eimer auf. »Du Hundesohn, lass ihn in Ruhe!« Freundlich legte er Dan den Arm um die Schultern und grub seine Finger in dessen Oberarm. Sie maßen einander, stumm, ohne einen Wimpernschlag. Als Nat seinen Griff lockerte, kehrte Dan zu seinem Eimer zurück.

»Lass uns weitermachen, bevor Vater herüberschaut«, sagte Nat. Er klang ruhig und unbekümmert, als schiene er nicht zu wissen, dass das Herz des Bruders wie eine Trommel schlug.

Seth griff nach dem Lappen und drückte ihn wieder in den Topf mit der schmierigen Paste, die er über das Messing zog.

Ein kleiner Mann kam den Landungssteg herauf, verharrte und blickte sich um. Dabei stellte er seinen weißen Leinensack ab, direkt in die Wasserlache, die nur langsam im blankpolierten Holz versickerte. Geh weiter, mach schon, dachte Seth. Als ich an Bord kam und kurz herumstand, gab’s gleich ’ne Schelle.

Eilends sah er zu seinem Vater hinüber. Über seine Holzkladde mit den Listen gebeugt, stand er vor einem Matrosen, der ihn um gut einen Kopf überragte.

»Toppsgast Bartholomäus Kellington aus Bournemouth, Sir«, hörte er den Matrosen sagen.

Seth sah ihn sich genauer an. Das war also einer von den Toppsgasten, den Königen der Masten, den Männern, die die obersten Segel beherrschten. Der Mann hatte auch ein wenig Ähnlichkeit mit einem König. Gut sah er aus, so groß und stark.

»Habe ich Euch aufgefordert zu sprechen?«, brüllte der Vater und warf seine Holzkladde auf die Planken.

Seth, aber auch der Mann, der vor seinem Vater stand, zuckten zusammen.

»Dann haltet Euer Maul, bis ich Euch das Wort erteile.«

Sofort senkte der Matrose den Blick und zog die Schultern vor.

»Hebt das auf.«

Der Toppsgast rührte sich nicht. Seth wusste, der Vater würde ihn grün und blau prügeln, wenn er sich seinem Befehl widersetzte. Ein jeder an Bord beobachtete derweil die beiden. Dann ging der Matrose auf die Knie, suchte die Papiere zusammen, erhob sich mit noch immer gesenktem Kopf und gab sie dem Vater.