Ein flaues Gefühl breitete sich in Seths Bauch aus. Jeder der Neuankömmlinge hatte sich beim Dienstantritt an seinen Vater zu wenden. Und jeder an Bord wusste von diesem Augenblick an, dass der Bootsmann Kyle Bennetter hieß. Hoffentlich fragt mich hier nie jemand nach meinem vollen Namen. Alle werden mich hassen, wenn sie wissen, dass er mein Vater ist. Und an mir werden sie’s dann auslassen. Schnell nahm Seth seinen Lappen und drückte ihn in den Eimer. Gut, dass niemand sehen konnte, dass kein Wasser mehr darin war. Nat und Dan arbeiteten geschäftig und hatten seine Trödelei nicht bemerkt.
Bartholomäus Kellington verschwand.
Der kleine Mann, der hinter dem König der Matrosen gewartet hatte, verlangte nun, aufs Achterdeck gelassen zu werden. Das ist also einer von den feinen Pinkeln, die es sich in den Kajüten gutgehen lassen. Die ordentliches Essen bekommen und nicht im engen Mannschaftsdeck hausen müssen.
In der ersten Nacht hatte Seth darauf gewartet, dass der Vater vor seiner Hängematte erscheinen und ihn mitnehmen würde. Dass er Nat und ihn in seine Kajüte holen würde und dass sie zu dritt in der engen Koje schlafen könnten. Doch der Vater war nicht gekommen, und Seth hatte in seiner Hängematte gelegen und den Bruder vermisst, der zur Wachschicht eingeteilt worden war.
»… das könnt Ihr vergessen!«, schrie sein Vater und begann wieder, einem Stier gleich zu toben. »Ich lasse kein Gesinde aufs Achterdeck, solange die Gentlemen nicht an Bord sind. Und jetzt verschwindet ins Mannschaftsdeck. Da geht’s lang!« Er zeigte zum Hauptmast, und der kleine Mann schlich zum Niedergang hinüber. Seth grinste. Sein Vater schickte den feinen Pinkel tatsächlich in das Mannschaftsdeck. Ja, dem wird’s so gehen wie mir.
Und jetzt, als der Vater schwieg, vernahm er sie wieder: die schrillen Möwenschreie. Es waren sechs Vögel, die um das Krähennest ihre Bahnen zogen. Oder waren es sieben? Er trat einen Schritt zurück, um sie besser sehen zu können, und spürte, dass sein Fuß sich verfing. Bevor er begriff, was geschah, stürzte er. Mit den Rippen krachte er auf die Kante des Holzeimers, dass es ihm die Luft nahm. Als er zu atmen versuchte, hörte er nicht viel mehr als ein pfeifendes Geräusch, das seinem Mund entwich. Bevor er noch einmal nach Luft schnappen konnte, sah er das Gesicht seines Vaters. Direkt über sich. Rot und wutverzerrt. Die Hand des Vaters schoss auf ihn zu, und er spürte die Finger, die sein Ohr packten. Sein Kopf wurde vorgerissen, bis seine Nase ein Tau berührte, das auf Knöchelhöhe verlief. Nichts als die feinen Fasern des gewundenen Taus konnte er noch sehen. Vaters Finger sind so kalt. Ob er mir mein Ohr abreißt? Wie das wohl aussieht? Ich spür meinen Fuß nicht mehr, vielleicht ist der ja schon abgerissen.
Das Brüllen seines Vaters erreichte ihn aus weiter Ferne: »Schau, wohin du trittst und was du machst, ansonsten stelle ich dich eigenhändig in die Taurolle und lass dich an den Füßen ins Rigg hochziehen.«
Seth versuchte zu nicken, was ihm unter dem eisenharten Griff kaum gelang. Den Kopf immer noch kurz über den Planken, bemerkte er in einiger Entfernung den kleinen Mann. Er war noch nicht ins Mannschaftsdeck hinabgestiegen, sondern starrte ihn an.
Dann schoben sich Beine vor sein Gesicht. Nats Beine, wie Seth am Stoff der Hose und den nackten Füßen erkennen konnte.
»Vater, bitte, sei nicht so …«, hörte er den Bruder sagen. Doch bevor der den Satz beenden konnte, ließ der Vater Seths Ohr los, sodass sein Kopf auf den Boden schlug. Dann hörte er die schallende Ohrfeige.
Besorgt blickte er zu Nat auf, der sich die Wange hielt. Also hatte der Vater ihn nur halb so arg erwischt. Beim letzten Mal hatte Nats Nase so lange geblutet, dass es die Mutter mit der Angst bekommen und ein fürchterliches Gezänk mit dem Vater begonnen hatte.
Erneut schob sich ein Schatten über ihn. Seth legte den Arm über seinen Kopf, bevor er hinaufschaute. Doch der Vater maß mit seinem Blick den Bruder: »Wenn du mich an Bord noch einmal Vater nennst, kannst du was erleben, Nathaniel. Ihr seid jetzt Seeleute. Hier gibt’s keinen Vater mehr.«
Bleib liegen und beweg dich nicht. Irgendwann ist’s vorbei, dann geht er wieder. Seth schloss die Augen.
»Merkt euch eines: Hier wird jeder gleich hart rangenommen, und ihr beide werdet mir keine Schande machen!« Die Stimme des Vaters war jetzt ruhig.
Dann hörte Seth Schritte und das Knirschen von Absätzen. Der Vater ließ von ihnen ab. Er öffnete die Augen und atmete auf. Da war kein Pfeifen mehr, die Luft strömte wieder in seinen Hals. Mit einem Schlag spürte er, wie sein Herz trommelte. Das Ohr war noch am Kopf, aber taub vor Schmerz. Er zog das rechte Bein heran und tastete nach seinem Fuß, durch den das Blut floss, als würde es kochen.
Nat beugte sich vor, und Seth konnte die roten Abdrücke der einzelnen Finger des Vaters auf seiner Wange erkennen. Er ließ sich aufhelfen, und als ihm der Bruder über die Schulter strich, begannen seine Augen zu brennen. Wortlos setzte Seth seine Arbeit fort. Dieses Mal lass ich mich nicht ablenken. Ich mach meine Arbeit. Nie wieder lass ich mich ablenken, und wenn ich ’nen Stein finde, dann schmeiß ich ihn nach einer Möwe. Und die fällt dann tot vom Himmel.
***
Sie konnte dort nicht hinunter.
In die Vorhölle des Schiffes.
In die Enge.
In die Finsternis.
Was war, wenn man sie nicht mehr auf das Achterdeck ließ? Wenn dort nicht mehr genügend Platz vorhanden war? Die Kajüte, zu zweit geteilt, die eigene Schlafkoje – auf diese Sicherheit hatte sie gesetzt.
Mit der linken Hand suchte sie an der Holzwand Halt und schritt die Stufen in das Mannschaftsdeck hinab. Das Schiff war überholt worden, doch die Stufen hatte man belassen, wie sie waren. Ausgetreten vom Gewicht unzähliger Männer, die sie hinauf- und hinabgelaufen waren, knarrte das Holz unter ihren Füßen. Mit dem rechten Arm presste sie den Leinensack an sich und spürte, dass er nass geworden war. Die Blätter des Buches werden sich vollsaugen, dachte sie flüchtig, als sie ins Halbdunkel schaute.
Der Raum maß nicht mehr als fünfeinhalb Fuß Höhe, und selbst sie, eine Frau mittlerer Statur, musste den Kopf einziehen. Hier konnten nur noch die Schiffsjungen aufrecht stehen, wenn überhaupt. In einer Ecke thronte ein schwarzglänzender Eisenofen, und die Tische hingen von der Decke, in Seilschlaufen festgezurrt. Kaum ein Geräusch war zu vernehmen, als würde der Lärm an Deck vom ausgetretenen Niedergang verschluckt. Zwei Männer saßen auf Seekisten und beobachteten einen Dritten, der seine Hängematte zusammenrollte.
»Könntet Ihr mir sagen, wo ich Backsvorsteher Sohnrey finde?«
Die drei starrten sie an.
»Ich wurde aufgefordert, bei ihm vorstellig zu werden«, fügte Mary hinzu. Niemand reagierte. Das Blut stieg ihr in den Kopf. Sie hastete an den schweigenden Männern vorbei und fühlte, dass ihr die Blicke folgten.
Im hinteren Teil des Decks konnte sie einen älteren Matrosen und Bartholomäus Kellington ausmachen.
»Ihr müsst mir helfen«, sagte sie, und ihre Stimme klang hell und nervös. »Ich soll mich beim Backsvorsteher Sohnrey melden. Gehe ich recht in der Annahme«, sie wandte sich dem Älteren zu, »dass Ihr das seid?«
»Ja, das bin ich. Und wer bist du?«
»Marc Middleton ist mein Name, und ich bin der Zeichner von Sir Carl Belham. Der Bootsmann verkennt meine Position und verweist mich an Euch. Ihr sollt einen Platz für mich finden, bis die Gentlemen an Bord sind.«
Bartholomäus schien amüsiert. »Du warst noch nie an Bord eines Schiffes, oder?«, fragte er.