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Es war spät geworden. Henriette Fincher saß aufrecht, ein Kissen in den Rücken geschoben, vor ihm. Sie hielt die Hände ineinandergeschlungen und schaute ihm direkt ins Gesicht. »Ich bin mir sicher, dass sich meine Nichte meinem Wunsch widersetzen wollte, demnächst in den Stand der Ehe zu treten. Kaum, dass wir darüber sprachen, verschwand sie. Ihr werdet verstehen, Mr. Reed, dass wir uns keinen Skandal leisten können. Dass wir verkünden werden, Mary sei Verwandte an der Südküste besuchen.«

Landon nickte. Dort auf dem Stuhl, dort hat sie gesessen und mich angelächelt, den Schein des Kaminfeuers im Rücken. Warum ist es in diesem Jahr so kalt? Es ist Sommer, und beständig müssen wir einheizen, um uns zu wärmen.

»Ich bin Euch sehr dankbar, dass Ihr meiner Bitte entsprecht, uns bei der Suche zu unterstützen. Bitte geht so diskret wie möglich dabei vor. Gern stelle ich Euch unseren Bediensteten William Middleton zur Seite. Er kennt das Mädchen besser als irgendwer in diesem Haus. Nun entschuldigt mich bitte, die ganze Angelegenheit hat mich sehr mitgenommen.«

Warum fragt sie nicht Canaughy? Fürchtet sie sein loses Mundwerk? Fürchtet sie, er könnte aller Welt erzählen, was sich zugetragen hat? Landon begleitete Mrs. Fincher zur Tür und verabschiedete sich von ihr. Als sie im Flur verschwand, fröstelte es ihn erneut, und die Leere in seinem Kopf ließ nicht nach. Kein klarer Gedanke wollte sich formen. Nur der eine, der unfassbare, blieb fassbar: Sie war weg.

Der Bedienstete kam ihm entgegen und brachte ihn in das Zimmer zurück. Er nahm ihm gegenüber Platz. Landon schaute den alten Mann an: das verhärmte Gesicht und die zusammengepressten Lippen. Endlich etwas, das wärmt, dachte er jedoch, als er in die wachen Augen blickte.

»Mrs. Fincher und ich hatten vereinbart, dass sie Euch meine Hilfe anbietet. Mein Name ist William Middleton, und seit knapp vierundzwanzig Jahren bin ich in diesem Hause tätig«, sagte der Alte. »Bitte verzeiht, dass ich mich erdreiste, Eure wertvolle Zeit in Anspruch zu nehmen, aber vielleicht kann ich zu der Suche meinen Teil beitragen.«

Nimm dir so viel Zeit, wie du willst, und erzähle mir von ihr. Alles, was du weißt. Lass sie für einen Moment wieder bei uns sein. Landon räusperte sich. »Gern möchte ich die Suche nach Miss Linley unterstützen. Aber wie kann ich dabei behilflich sein?«

William erhob sich, fasste nach dem Schürhaken und stocherte in den Flammen herum. Funken sprühten auf und verglühten in der Luft. »Ich glaube zu wissen, was sie vorhat. Es erscheint undenkbar, aber wenn man Miss Linley kennt, könnte man in Betracht ziehen, dass sie sich zu diesem Schritt entschlossen hat. Mir liegt es fern, Mrs. Fincher zu beunruhigen, und deshalb möchte ich Euch um eine Einschätzung meiner Überlegungen bitten.«

Landon nickte. Das Blut pumpte durch seine Halsschlagadern, die sich unangenehm spannten.

»Um Mary zu verstehen, solltet Ihr ein wenig über dieses Haus, über Francis Linleys Erbe erfahren. Ihr müsst wissen, dass er ein großartiger Arzt und kundiger Naturforscher war. Sein Leben kreiste um seine Arbeit. Was lag da näher, als seine Tochter in die Arbeit mit einzubeziehen? In diesem Haus gab es keine weibliche Hand, die das Kind aufzog. Also stellte er sich dieser Aufgabe, eben auf seine Weise. Kaum, dass Mary laufen konnte, brachte er sie auf die Felder, las ihr aus seinen Büchern vor und nahm sie zu ersten Hausbesuchen mit.

All das war ihr schon im Kindesalter so vertraut wie die Fremden, die über die Jahre dieses Haus betraten. Gelehrte Männer waren das, die nach Plymouth kamen, hier hinaus zu uns. Ihr hättet es sehen sollen: Mr. Linley begrüßte die Gäste stets auf das Herzlichste, sobald sie die Eingangshalle betraten. Mary jedoch hielt sich im Schatten des Flures verborgen und musterte die Gelehrten eingehend, es war fast, als studiere sie jeden einzelnen, seine Haltung, seine Gesten. Ihre Erinnerungen an die Gäste waren im Nachhinein stets exakt. Nie hat sie den einen mit dem anderen verwechselt, und wir hatten wahrhaftig viele Gäste.

Sie alle nahmen an den Gesprächsrunden teil, dem illustren Zirkel, der stets im Herrenzimmer diskutierte. Da war zum Beispiel Dr. Solander, der mit Sir Joseph Banks unter Kapitän Cook gereist war. Sicher habt Ihr von ihm gehört. Ein untersetzter, beleibter Mann mit einem schwedischen Akzent. Mary mochte ihn gern. Immer wieder schloss er das Mädchen in seine Arme und drückte es gegen seine Brust. Wobei er lachte, während sie kichernd versuchte, sich seinem Griff zu entwinden.

Den vor Kraft strotzenden Sir Joseph Banks fürchtete sie ein wenig. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie mehr Angst vor seiner Stimme, einem lauten Bass, oder seiner rechten Hand hatte, die er gern im Gespräch flach auf den Tisch knallen ließ. Sie war so zart, und sie erschrak jedes Mal aufs Neue. Ich habe es genau bemerkt, wie sie bald einen Bogen um ihn und diese Hand machte.

Carl von Linné gab uns bei einem seiner Englandbesuche die Ehre. Er war bescheiden und wollte keine Umstände machen. Immer musste er auf seine Arbeit angesprochen werden, ehe er davon erzählte.

Und selbst Johann Forster erschien. Wenn er nicht über sich selbst sprach, kommandierte er seinen Sohn herum. Derart grob, dass Mary Mitleid mit ihm bekam, und so versuchte sie, ihm gegenüber besonders aufmerksam zu sein. Mehrfach lief sie zur Köchin und erbat sich kleine Naschereien. Die brachte sie dem Forster-Sohn, wenn er wieder eine Arbeit übersetzte, um das Geld für seinen Vater und sich zu verdienen. Der junge Mann war sehr ernst für sein Alter, aber wenn er die Kleine sah, dann lächelte er manchmal.

Und auch James Cook reiste eines Tages an. Er war groß und hager, müsst Ihr wissen. Ständig hielt er den Kopf ein wenig vorgebeugt, als würde er jeden Moment eine Kajüte mit niedriger Deckenhöhe betreten. Mir ging es wie Mary. Neugierig beobachteten wir ihn und wurden nicht schlau aus ihm. Wir rätselten, wie er es schaffte, eine ganze Mannschaft zu befehligen, wo er doch nur selten und leise sprach.

So ging es hier über die Jahre zu: Mathematiker trafen auf Botaniker, Kapitäne auf Wundärzte, Geologen auf Kunstmaler. Ein Kommen und Gehen der Gelehrten. Und nie hat sich jemand daran gestört, dass die Tochter von Francis Linley an den Gesprächsrunden mit glänzendem Blick teilnahm. Dass sie schweigend dabeisaß und begierig das geballte Wissen in sich aufsog. Versteht Ihr? Nachts saß sie in ihrem Bettchen und schrieb sich auf, was sie gehört hatte. Sie füllte Heft um Heft damit. Dieses Mädchen wurde von klein auf mit den Gedanken dieser Gelehrten … ja, sie wurde regelrecht damit vollgestopft.«

Landon nickte. Er schluckte und spürte seinen Adamsapfel springen. Sie hat mir ihr Leben gezeigt. Die Zeichnungen, die Pflanzen und die Schmetterlinge. Ich habe sie nicht erkannt, ich habe all das für eine versponnene Leidenschaft gehalten und dabei nur gehofft, die Wärme ihrer Stimme würde mir gelten.

Der Alte stieß nochmals mit dem Schürhaken ins Feuer. Abrupt drehte er sich um und schaute Landon prüfend an. »Daher kommt ihre Begeisterung für die Wissenschaft. Aus dem Mädchen konnte hier nichts anderes werden. Deshalb habe ich von Mr. Linleys Erbe gesprochen.«

Nass und kalt klebte Landon das Hemd in den Achselhöhlen. Er musste etwas sagen, um William Middleton die Angst zu nehmen, er könnte an Mary zweifeln. »Ja, ich kann Euch folgen. Aber sagt mir, was, denkt Ihr, hat sie vor?« Gern hätte er noch einmal angesetzt und dabei weniger spröde geklungen, doch der Alte schien beruhigt.

Er legte den Schürhaken beiseite und setzte sich wieder an den Tisch. Mit den Fingern strich er Falten aus dem Überwurf. »Ich befürchte«, sagte er so leise, dass Landon sich vorbeugen musste, »ich befürchte, dass es ihr gelungen ist, an Bord des Forschungsschiffes zu kommen, das im Hafen liegt.«