Die Matrosen wichen zur Seite, um Sohnrey Platz zu machen. Alle schweigen, also schweig du auch. Hier haben Männer etwas untereinander ausgetragen, worüber du kein Wort verlieren darfst.
Der Backsvorsteher riss ihre Arme beiseite und betrachtete das Auge. Dann zerrte er sie zum Niedergang. »Geh das kühlen. Und du, Edison«, sagte er zu dem Drahtigen, »beruhigst dich wieder. Hier ist jetzt Schluss für heute, die Nachtruhe hat längst begonnen!«
Damit wandte er sich ab. Das Thema war erledigt.
Mary kletterte die Stufen hinauf und lauschte, ob die Männer ihr folgen würden. Zitternd stieß sie die Klappe auf und ließ sich auf das Deck fallen. Als der kühlende Wind ihre Haut berührte, spürte sie den pulsierenden Schmerz und rang nach Atem. Mit den Fingerspitzen betastete sie ihr Auge, das halb zugeschwollen war.
Erschöpft setzte sie sich an das Beiboot und rutschte immer weiter unter den Bug, um nicht von der Nachtwache entdeckt zu werden. Legte die Arme um die Beine und stützte das Kinn auf die Knie. Leise schlugen die Wellen an die Bordwände.
Plymouth schien von der Nacht verschluckt worden zu sein. Hin und wieder trug der Wind Geräuschfetzen herüber, die ihr das tröstliche Gefühl gaben, dass die Welt noch existierte.
Ihr Blick folgte dem Lichtstrahl des Leuchtturms, der über die Wellen tanzte und den Schaumkronen einen silbernen Streifen verlieh, der sich dann und wann aufkräuselte und im Schwarz des Wassers verschwand.
Vielleicht würde die Nachtwache irgendwann ermüden, und vielleicht würde es ihr gelingen, das Schiff zu verlassen. Zum Hoy Inn zu laufen, um dort die Nacht zu verbringen. Wenn man am Morgen ihr Verschwinden bemerken würde, wäre sie schon längst auf dem Weg nach Hause. Sie würde Henriettes anklagendes Weinen überstehen. Für den Moment der Umarmung Williams Wärme spüren und dann das leergeräumte Haus in Augenschein nehmen. Sie würde Landon heiraten, egal, wen die Tante für sie ausgewählt hatte. Und sie würde schweigen, für immer darüber schweigen, was sie in den Tagen ihres Verschwindens erlebt hatte. Doch noch während sie der Wärme nachfühlte, die sie bei dem Gedanken an Williams Umarmung zu spüren glaubte, wusste sie, dass sie bleiben würde. Hier, an Bord der Sailing Queen.
***
Es war kalt, und nur das Klappern seiner Zähne hielt Seth wach. Immer wieder tastete er nach dem Seil, das er sich um den Bauch geschlungen und am Mast verknotet hatte. Sicher würde kein Sturm aufkommen, doch er fürchtete einzuschlafen und aus dem Krähennest zu stürzen, hinab auf das Deck. Die Nachtwache zog dort unten ihre Kontrollrunden. Er konnte die schlurfenden Schritte hören, wagte aber nicht, hinunterzuschauen. Das Schwanken des Schiffes war auf der kleinen Plattform deutlich zu spüren und verursachte ihm Übelkeit. Er kroch ein Stück näher an den Mast und legte seine Arme um den Stamm. Er atmete den holzigen Geruch ein und meinte sogar, ein wenig klebriges Harz an seinen Fingern spüren zu können.
Ein Pfiff ertönte.
Hatte er richtig gehört? Lauschend setzte Seth sich auf. Wieder vernahm er einen leisen Pfiff. Er hielt die Luft an und spähte über den Rand der Plattform.
Nat stand an Deck und winkte ihn zu sich.
Seth löste den Knoten des Seils und rollte es um den Mast. Dann drehte er sich auf den Bauch und suchte mit den Füßen Halt in den Wanten. Langsam tastete er sich an den Tauen, die rau durch seine Hände glitten, hinab. Als er auf die Decksplanken sprang, schlotterten seine Beine. »Was ist, wenn uns die Wache hört?« Er flüsterte, und seine Zähne schlugen dabei noch immer aufeinander.
»Alles in Ordnung. Ich habe gewartet, bis er eingenickt ist. Verschwinde in das Kabelgatt. Schlafe ein wenig.«
Zögernd blieb Seth stehen. Der Bruder hatte schon den Nachmittag im Krähennest verbracht, er musste müde sein. Als hätte er seine Gedanken erahnt, zischte Nat: »Nun mach schon. Ich schaff das. Hau ab. Schnell!«
Sofort verschwand Seth im Niedergang. Leise atmend blieb er stehen. Ins Kabelgatt solle er gehen, hatte Nat gesagt. Aber was war das, das Kabelgatt? Ins Mannschaftsdeck wollte er nicht zurück. Die Männer ängstigten ihn. Und wie sollte er jetzt seine Kiste öffnen, um die Hängematte herauszunehmen, ohne jemanden dabei zu wecken?
Die Schafe, dachte er. Dort gehe ich hin, dort ist es schön. Bei ihnen ist es warm. Am Tage hatte er die Tiere gesehen. Wie sie breitbeinig und blökend im Stroh gestanden und versucht hatten, das Schwanken des Bootes auszugleichen.
Unter Deck war es stockfinster. Er lauschte. Langsam tastete er sich an den Kisten und Säcken entlang und schob Fuß um Fuß voran, um nicht zu stolpern. Wenige Schritte weiter stieß er gegen das hölzerne Gatter und riss sich einen Splitter in die Handfläche. Die Schafe, die ihn witterten, drängten sich als hellgrauer Schatten in der gegenüberliegenden Ecke des Geheges aneinander.
Seth kniete im Stroh nieder und tastete sich mit den Händen voran. Es war ihm gleichgültig, ob er sich in Schafköttel oder in feuchtes Stroh legte. Er wollte schlafen. Als er sich einrollte, berührte er etwas Warmes. Etwas Warmes, Glattes, das sofort verschwand. Er fuhr hoch.
»Wer ist da?«, flüsterte er in die Dunkelheit.
»Ich bin’s. Marc.«
Marc? Welcher Marc? Seth hörte das Blut in seinen Ohren rauschen, so laut wie das Meer, wenn ein Sturm das Wasser aufwühlte. Ach, der Kleine, versuchte er sich zu beruhigen. Der feine Pinkel. Lauernd fragte er: »Was machst du hier?«
»Ich will hier schlafen. Die Männer schnarchen so laut.«
Seth seufzte erleichtert auf. »Ja, furchtbar, oder? Weißt du, der Kerl neben mir furzt immer. Da konnte ich auch nicht schlafen.«
Marc lachte auf. Ein helles Lachen, das freundlich klang. Nicht so derb wie das der anderen Männer.
»Ich verspreche dir, dass ich meine Darmwinde im Zaum halte.«
»Verrätst du mich auch nicht?« Vor seinen Augen sah Seth den Vater und wie der in Rage geraten würde, wenn er mitbekäme, dass Nat seinen Dienst übernommen hatte.
»Um Himmels willen. Dann würde ich ja auch meinen geheimen Schlafplatz verraten.«
»Stimmt.« Er nahm die Mütze ab und ließ den Kopf auf die Arme sinken. Das knisternde Geräusch der trockenen Halme erinnerte ihn an den Stall zu Hause. »Wir hatten auch Schafe. Und manchmal haben mein Bruder und ich im Stall übernachtet. Meine Mutter kam uns morgens wecken. Sie hat uns dann gleich in die Regentonne gesteckt, weil wir so gestunken haben.«
»Das klingt schön. Wenn du heimkehrst, könnt ihr das bestimmt wieder machen. Im Stall schlafen.«
Vielleicht ist Marc gar nicht so ein feiner Pinkel. Eigentlich ist er ja ganz nett. »Ja, das war schön. Aber wenn wir zurückkommen, will der Vater meinen Bruder und mich auf die Marineschule schicken. Die Schafe sind weg. Meine Mutter ist nämlich tot. Und jetzt müssen wir mit meinem Vater auf das Schiff.«
Kurz spürte Seth das kalte Wasser der Regentonne und das raue Tuch, mit dem ihn die Mutter trockenrieb. Und ihre warmen Hände, die ihm einen Klaps gaben, dass er zum Haus hinüberlaufen sollte. Er schluckte. »Hast du noch eine Mutter?«
»Nein, sie ist bei meiner Geburt gestorben.«
»Dann haben wir was gemeinsam. Wir haben keine Mütter mehr, und wir schlafen beide gern im Stroh.«
Wieder lachte Marc auf. »Das ist doch schon ein Anfang. Aber jetzt mach die Augen zu. Wenn wir morgen beide übermüdet sind, dann ist das keine gute Gemeinsamkeit.«
»Ja, schlaf gut.« Jetzt kenne ich auf dem Schiff schon meinen Vater, Nat, den Schiffsjungen Dan und den kleinen Marc, dachte er und schlief ein.
Plymouth, 20. Juli 1785
»Marc?«