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Mary wandte sich um. Die Dämmerung hatte der Stadt ihre Farben genommen. Plymouths Dächer drängten sich düster aneinander, die sonst sattgrünen Hügel des Hinterlandes duckten sich in der Farbe von Holzruß unter den tiefhängenden Wolken. Die Wälder, in Schwarz gehüllt, begrenzten die tags goldgelben Felder, die nur noch als gräuliche Flecken auszumachen waren. Hier, hinter der Kaimauer, konnte sie alles abschreiten. Die Stadt mit ihren engen Gassen, sogar die gesamte Insel, wenn sie es wollte. Doch das Leben jenseits dieser Mauer konnte sie nicht erreichen. Die unebene, steinige Kante, an der sich beide Welten berührten, war die Grenze. Nein, schien sie zu sagen, auf ein Schiff, dort hinaus in die Weite der Weltmeere und den Spuren deines Vaters folgen, um sein Werk fortzuführen, das darfst du nicht! Für heute hast du genug geträumt. Ein Forscher kannst du nicht sein. Denn du bist eine Frau.

***

Die silberne Klinge des Messers senkte sich ins Fleisch und trennte es in zwei Hälften, die weich und rosig auseinanderfielen. Sollte ich nichts erreicht haben, bis ich gehe, so werde ich wenigstens gut gegessen haben, dachte Landon Reed, als er die Gabel zum Mund führte.

James Canaughy, ein Mann mit sonorer Stimme, saß neben der Gastgeberin Henriette Fincher und sprach in einer Lautstärke, die jede weitere Konversation am Tisch unterband. Mit Messer und Gabel in den Händen gestikulierte er in der Luft herum und bebilderte eine Venedig-Reise, indem er italienische Begriffe in seine Rede einfügte, als wäre ihm die englische Sprache auf dem Weg zwischen Plymouth und der Adria abhandengekommen.

Die Frau an seiner Seite schien von dem Vortrag verzückt. Immer wieder lachte sie auf, immer wieder legte sie die Hand auf seinen Arm und beugte sich vor, um etwas zu erwidern. Monatelang hatte sie, erzählte man sich, ihren Mann, der gut zwanzig Jahre älter gewesen war, gepflegt. Kaum ein halbes Jahr, nachdem sie Witwe geworden war, hatte das Schicksal ihr nun den Bruder genommen. Und die Verantwortung für die Nichte aufgebürdet. Mrs. Fincher konnte nicht älter als dreißig Jahre sein, schätzte Landon, doch die Schattenseiten des Lebens begannen, sich in ihrem Gesicht in ersten feinen Linien abzuzeichnen. Alles in ihrem Gesicht war schmal, selbst die Augen, denen nichts zu entgehen schien. Wie konnte sie diesen Mann für ihre Nichte in die engere Wahl ziehen?

Canaughy hatte bekanntermaßen ein beachtliches Vermögen hinter sich, denn die Bank seines Vaters florierte. Landon hatte angenommen, es sei stadtbekannt, dass Canaughy seinem alten Herrn noch im Ruhestand die Arbeit überließ, während er allenthalben den schönsten und vor allem jüngsten Frauen der Gegend nachstellte. Offensichtlich hatte Mrs. Fincher den Nachhall seiner amourösen Abenteuer bisher nicht vernommen. Der Platz links neben ihr, ihm direkt gegenüber, war frei geblieben. Dort hätte Mrs. Finchers Nichte sitzen sollen, die Arme auf die gedrechselten Lehnen gelegt, den Rücken entspannt ans gelb gestreifte Rückenpolster gelehnt.

Mary Linley.

Ihretwegen war er erschienen. Nun musste er auf den leeren Stuhl starren, der, dicht an den Tisch geschoben, die Lücke in der Runde betonte, und war gezwungen, dem Schwätzer Canaughy zu lauschen.

»Mr. Reed, wie läuft der Handel?«

Landon schaute zu Peter Wallis hinüber, einem Anwalt, der mit seiner Frau geladen worden war.

»Wenn ich recht informiert bin, importiert Ihr tropische Hölzer? Oder war es der Teehandel?«

Canaughy, der sein Lammfleisch noch immer nicht angerührt hatte, überprüfte, während er von einer Jagd erzählte, sein Konterfei in der glänzenden Gabel. Mit einem gezielten Griff schob er den Kragen seines Hemdes zurecht und beschrieb wortreich, wie er zwei Füchse erlegt hatte.

Landon verspürte kein Bedürfnis, sich über geschäftliche Dinge auszulassen, doch kam er nicht umhin, kurz auf Peter Wallis’ Frage einzugehen. Als er zu einer Antwort ansetzen wollte, öffnete sich die Tür. Mary! Endlich! Da bist du, dachte er, ließ das Besteck sinken und erhob sich.

Der Rock ihres bodenlangen Kleides wippte auffordernd bei jedem Schritt. »Gott zum Gruße«, sagte sie und nickte in die Runde. »Ich hoffe, die werten Gäste sehen mir mein spätes Erscheinen nach, aber ich fühle mich derzeit nicht wohl. Doch ich möchte nicht die Gelegenheit verpassen, einen kleinen Moment gemeinsam zu genießen.« Mit einer Handbewegung bat sie darum, dass die Gäste wieder Platz nahmen, und ließ sich nieder.

Zuletzt hatte Landon Mary im Theater getroffen, damals war sie noch in Begleitung ihres Vaters gekommen. Von jeher war sie selten bei gesellschaftlichen Anlässen erschienen, und nach dem Tod des Vaters hatte sie sich vollkommen zurückgezogen. Aufgeweckt und unbekümmert hatte er sie in Erinnerung, doch heute lag auf ihrem ovalen Gesicht etwas Kränkliches. Auch der Puder und das Cochenille auf ihren Wangen konnten es nicht verbergen.

James Canaughy taxierte sie. Ein fünfarmiger Kandelaber, der in der Tischmitte stand, nahm ihm den Blick. Er beugte sich vor. Sein starrer Blick wanderte Marys Hals herab, tastete über Brüste, Schultern und Arme.

Ich bin nicht besser, fuhr es Landon durch den Kopf, ich starre sie ebenfalls an. Abermals zog er sein Messer durch das Fleisch und betrachtete die dunkle Sauce, die sämig von der Klinge tropfte.

Das Dienstmädchen fasste nach dem Blasebalg, um das Feuer zu entfachen. Die braunrote Wandtäfelung ließ den weißgetünchten Kaminsims leuchten. Die Flammen flackerten auf und warfen Schatten, die auf Marys Schultern tanzten.

Landons Blick verlor sich auf einem schwarzglühenden Holzscheit, das knisternd zerfiel. Zu gern hätte er Mary in ein Gespräch verwickelt, sie erheitert, ein wenig abgelenkt, aber kein Wort wollte ihm einfallen, mit dem er sich an sie wenden konnte. Wie sprach man eine kluge Frau an?

Bei einer Kunstausstellung war er mit ihr bekannt gemacht worden. Erstaunt hatte es ihn, dass sie sich so exzellent auf Malerei verstand. Schon zuvor hatte er davon gehört, dass sie ihrem Vater bei seiner Arbeit zur Seite gestanden hatte. Die Gemüter hatten sich daran erhitzt, dass eine Frau den Arzt begleitete, doch ob der Erfolge, die er in seinen Behandlungen erzielt hatte, waren auch die letzten Schandmäuler irgendwann verstummt. Ja, da war er sicher, sie war sehr klug. Er lächelte.

Die Wangen von Peter Wallis’ Frau waren vom Wein gerötet. Mittlerweile war sie mit Mary ins Gespräch vertieft. Das Dienstmädchen stakste an den Tisch und trug die Teller ab. Landon beugte sich vor, um der Unterhaltung der Frauen zu folgen. Vielleicht ergab sich die Gelegenheit, etwas einzubringen, um für einen Moment ihren Blick für sich zu haben.

»Das ist nicht Euer Ernst«, sagte Mrs. Wallis just und schlug die Hand vor den Mund.

Mary nickte. »Doch, die fadenspinnende Gespinstmotte ruiniert die Obstbäume. Und so ist es, nicht nur zum Schutz der Ernte, wichtig, sich den Befall und die Größe der Populationen genauer anzuschauen.«

»Ihr fasst dieses Tierzeugs an?« Mrs. Wallis schaute erheitert zu ihm hinüber. »Was sagt Ihr dazu, Mr. Reed?«

»Oh, ich hörte von Miss Linleys Furchtlosigkeit. Und von ihrer Vorliebe für die heimische Gespinstmotte.«

Amüsiert ergriff Mrs. Wallis ihr Glas, und Mary sah ihn an. Kurz nur, aber sie lachte. Ihm wurde warm.

Obgleich Canaughy immer noch ohne Unterlass auf Mrs. Fincher einsprach, versuchte diese, der Unterhaltung ihrer Nichte zu folgen. Auf dem Gesicht und am Hals der Gastgeberin hatten sich rote Flecken gebildet. Sie klatschte in die Hände, und das Mädchen trug ein Tablett mit Kristallkelchen herein. Als sie Mary eines der Gläser mit weißlichem Sorbet reichte, schüttelte die dankend den Kopf, schob den Stuhl zurück und erhob sich. »Meine Damen, meine Herren. Das Essen hat mich erschöpft. Gern würde ich mich, wenn ich darf, jetzt zurückziehen.« Sie schaute Mrs. Fincher abwartend an, die sich die Serviette vor den Mund presste, sie sinken ließ und nickte.