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Er war es!

Sir Carl Belham!

Direkt vor ihr, so nah, dass sie jede Pore seiner Haut und jedes Haar der dichten Bartstoppeln erkennen konnte. Unfähig, ihm länger in die Augen zu schauen, blieb ihr Blick am gerüschten Kragen seines Hemdes hängen. Einer der größten Wissenschaftler stand vor ihr, und sie war verdreckt, hatte ein Veilchen und stank, dass man durch den Mund atmen musste. Mary schüttelte den Kopf und bemühte sich, ihre Gedanken zu fassen, die wie Lämmer herumsprangen. »Niemand. Ein Unfall, Sir. Ich meine, Carl. Ich wollte, ich bin … und jetzt wollte ich mich gerade frisch machen und …« Sie verstummte, da sie das eigene Gestammel nicht mehr ertrug.

»Lass dich nicht abhalten«, sagte er und schlug ihr mit der Hand auf die Schulter. »Aber beeile dich, wir legen gleich ab. Das willst du sicher nicht versäumen, oder?«

Ein Lächeln, eine Drehung, dann fiel die Tür zu.

Wie konntest du dich so närrisch verhalten, schalt Mary sich. Stotternd und stinkend stehst du vor einem der herausragendsten Köpfe unserer Zeit. Sie sog die Luft ein.

Was für ein Mann!

Was hat er zum Abschied gesagt?

Das Schiff ist dabei, abzulegen?

Mary wandte sich zum Bullauge um, das auf das Wasser hinauszeigte.

Er hat es gesagt. Er hat gesagt, dass wir ablegen. Gleich.

Und ich bin an Bord.

Ich habe es geschafft.

Ich werde die Welt bereisen.

Atlantischer Ozean, 21. Juli 1785

Sie würgte, obwohl ihr Magen längst leer war. Die Kehle brannte, und der Wind zerriss die feinen Speichelfäden.

Matrosen, Seesoldaten, Wissenschaftler – die Gesichter der Männer, die neben ihr auftauchten, wechselten beständig. Einige blieben länger. Entkräftet hingen sie über der Reling, während andere sich die Seele aus dem Leib spien und dann aufrechten Ganges verschwanden. Selbst Carl Belham, die Haut aschfahl, erschien. Er nickte ihr zu, bevor er ein kehliges Gurgeln von sich gab.

Der allgegenwärtige Geruch von Erbrochenem hatte Marys Übelkeit verstärkt. Vor ihren Augen tanzten Stunde um Stunde die dunklen Wellen unter dem blassblauen Himmel dahin. Die schweißfeuchten Hände verbrannten in der Sonne, doch sie konnte den Griff nicht vom Messing lösen. Sie hörte die Wellen über das Deck brechen. Die Hühnerställe wurden überschwemmt, und wer konnte, rettete das letzte nicht ersoffene Federvieh.

Irgendwann spürte Mary, dass sich jemand an ihrer Jacke zu schaffen machte. Sie hob den Kopf. Seth. Er lächelte und lief weiter. Als sie die Finger in die Tasche schob, ertastete sie eine Scheibe Zwieback.

Ein weiteres Rollen erfasste das Schiff und ließ den Bug in die Tiefe absacken. Der Magen sprang ihr erneut zur Kehle hoch. Eine Welle schlug ihr ins Gesicht, und noch während sie Wasser aus Mund und Nase hustete, nahm Mary sich den Schwur ab, beim ersten Landgang das Schiff zu verlassen. Eher wollte sie zu Fuß nach Hause laufen, als weiter auf den schwankenden Bohlen zu stehen. Und kaum war der Entschluss gefasst, besserte sich ihr Zustand. Sie hockte sich nieder, lehnte den Rücken gegen die hölzerne Wand und bröselte Krumen vom Zwieback, die sie sich in den Mund schob. Entkräftet schloss sie die Augen.

»Ihr müsst in die Kajüte. Hier wird es zu kalt.«

Mary hob den Kopf. Der Abend senkte sich über das Meer. Aus der fordernden Windsbraut war ein schwacher Luftzug geworden, der unschuldig über Deck spielte. Nur vereinzelte Seekranke waren hie und da noch an der Reling auszumachen.

»Meint Ihr, Ihr könnt die Nacht in der Koje verbringen? Dort lässt es sich besser ruhen als in der Kälte.«

Nat ging vor ihr in die Knie, sein Gesicht tauchte vor ihrem auf. »Wird es gehen?« Er umfasste ihr Kinn, drückte es in die Höhe und blickte ihr fragend in die Augen.

Die Nähe und die kurze Berührung weckten ihre Sinne. Erschrocken schüttelte sie ihn ab. Wie lange saß sie schon auf diesen Planken? »Wie lange … wann sind wir in See gestochen?«, fragte sie. Die Zunge klebte trocken in ihrem Mund.

»Gestern, mein Herr.«

Mary nickte. Kurz nachdem Carl die Kajüte verlassen hatte, es musste gegen Mittag gewesen sein, hatte das Schiff den Anker eingeholt. Halb Plymouth war zugegen, der Hafen von Abschiedsrufen erfüllt gewesen. Ein Gewirr aus Männer-, Frauen- und Kinderstimmen. In ihrer Koje zusammengerollt, von Myers Seekiste verdeckt, lauschte sie dem ausgelassenen Trubel. Die Ankerwinde ächzte, ein Zittern durchlief den Rumpf, und Wellen schlugen gegen die Bordwände. Das Schiff wendete, um Wind in die Segel zu bekommen, und die Reise begann.

Die Augen geschlossen, stellte sie sich die gereckten Hälse und das Winken unzähliger Hände vor. Doch immer wieder tauchten zwei Gesichter auf. Gesichter, die von der Kaimauer aus prüfend die Mannschaft musterten. Landon Reed und William Middleton. Schnell öffnete sie die Augen und tastete mit ihrem Blick die Maserung der Holzwand ab. Die Kapelle der Marineschule spielte. Lange noch trug der Wind ihnen letzte Fetzen der Musik nach. Erst als diese ausgeblieben war, hatte sie sich ausgestreckt, dagelegen und an nichts mehr gedacht. Bis die Übelkeit gekommen war und sie an Deck getrieben hatte. Wie lange war das alles her?

»Seid Ihr wach?«

»Entschuldige bitte, es geht schon«, flüsterte sie. Nat ergriff ihren Arm, legte ihn um seine Schulter und stützte sie. »Ich bringe Euch zur Kajüte«, sagte er und schob sie vorwärts.

Sie spürte seiner Hand nach, die unterhalb ihrer Achselhöhle lag, doch die Finger waren zu weit von ihrer Brust entfernt. Dankbar ließ sie sich helfen.

»Lass diese Laus los, diesen unnötigen Ballast!«

Auch der Junge zuckte zusammen, als die Stimme ertönte. Es war die Stimme seines Vaters. Nats Arm und stützende Schulter verschwanden.

Mary knickten die Knie ein, haltsuchend lehnte sie sich gegen den Hauptmast.

»Doc Havenport hat darum gebeten, dass wir ein Auge auf die Seekranken haben, Sir«, sagte Nat.

»Aber nicht auf den, auf den habe ich ein Auge.« Bennetter deutete seinem Sohn mit einer Handbewegung an, er solle verschwinden.

Nat, bleib hier. Lass uns nicht alleine. Lass mich nicht allein. Du weißt, wie er ist, flehte sie in Gedanken, doch der Rücken des Jungen verschwand vor Marys Augen im Niedergang.

Der Schiffsjunge Dan eilte an ihnen vorbei. Konzentriert schaute er auf seine Hände, die er wie eine Muschel geschlossen hielt.

»Was hast du da?« fuhr Bennetter ihn an.

Dankbar für diesen kurzen Moment der Ablenkung atmete Mary auf.

Dan jedoch erstarrte. »Es ist ein Wunder! Eine Schwalbe, Sir. Sie ist von einer Welle an Bord gespült worden.«

Eine gewöhnliche Hausschwalbe, dachte Mary. Das ist kein Wunder, Junge. Die Vögel folgen den Schiffen. Und je weiter sie sich dabei vom Lande entfernen, desto eher halten sie sich an die Masten, sind sie doch der einzig feste Bezugspunkt im unruhigen Meer.

»Gib her«, sagte Bennetter.

»Sie ist sehr schwach. Aber vielleicht kann Mr. Myers …«, stotterte der Junge und öffnete die Hände.

Verirrt hast du dich, kleiner Vogel. Wir haben anscheinend etwas gemeinsam: Wir haben uns an einen Ort verirrt, an dem wir nichts verloren haben.

Schwarz glänzten die Augen des Vogels. Er begann mit den nassen Flügeln zu schlagen und hieb den Schnabel in Dans Finger. Der Junge reagierte nicht.

Bennetter packte den Vogel und hielt ihn wie einen nassen Lappen in seiner Rechten.

Dan trottete davon, sich mehrfach umdrehend.

Bennetter fixierte Mary, derweil der Kopf des Vogels und ein zappelndes Beinchen aus seiner Hand herausschauten. »Entschuldigt die kurze Störung«, sagte er freundlich, »doch ich wollte Euch noch erzählen, dass mir der Kapitän persönlich heute einen Einlauf verpasst hat. Sir Belham hat sich beschwert, dass ich Euch ins Mannschaftsdeck gesteckt habe. Ich kann Euch versichern, dass wir miteinander noch nicht fertig sind, mein Freund.« Er lachte auf und stieg die Stufen zum Achterdeck hinauf.