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»Ich hoffe inständig, dass Ihr recht behaltet.« Aber was war, wenn sie weggelaufen war, blind in ihrem Schmerz und ohne Ziel? Was war, wenn die Antwort eine profane, aber grausame war, die sich immer wieder abspielte? Dass sie überfallen worden oder einem Frauenschänder in die Hände gefallen war? »Wie geht es Mrs. Fincher?«, fragte Landon hastig, vergeblich darum bemüht, das Bild des Körpers mit den verdrehten Gliedern und das verzerrte Gesicht aus seinem Kopf zu verdrängen.

Der alte Mann nickte bedächtig. »Es geht ihr den Umständen entsprechend. Es ist so still geworden, seitdem sie uns verlassen hat. Ich denke, die Stille ist es, sie macht das Leben schwer.«

Abrupt hielt Landon inne und zwang William Middleton damit, ebenfalls stehen zu bleiben. »Bitte verschont Mrs. Fincher. Berichtet ihr nicht von den heutigen Ereignissen. Macht ihr das Leben nicht noch schwerer. Richtet ihr bitte lediglich meinen ergebensten Gruß aus. Es gibt keine Neuigkeiten. Sie ist und bleibt verschwunden.«

Noch immer lag die Luft dick und stinkend über dem Hafen.

Madeira, 7. August 1785

Die rechte Hand griff in das rohe Fleisch, während die linke nach dem Lorbeerzweig fasste und ein Blatt herauszupfte. Die Finger zerknickten es, und der austretende Saft wurde flink über das Fleisch gerieben. Die Frau mochte nicht älter als sechzehn oder siebzehn Jahre sein. Das dunkle Haar hatte sie in einen festen Zopf geflochten, der ihr bei der Arbeit über die Schulter fiel, wo er mit jeder Bewegung zwischen ihren Brüsten hin und her wippte. Carl nickte innerlich. Der Gastgeber hatte gut gewählt. Es war augenfällig, dass diese mauretanische Schöne das Essen zubereitete, weil den Offizieren und Gentlemen der Sailing Queen mehr als kulinarische Leckerbissen feilgeboten werden sollten. Er schaute sich die Männer an. Welcher von ihnen würde im Verlauf des Abends versuchen, mit ihr in eines der kühlen Zimmer zu verschwinden? Bereitwillig würde der Gastgeber jeden von ihnen gewähren lassen, denn satt, betrunken und befriedigt würden seine Kunden ihm noch mehr Wein abkaufen. Auch die Frau schien zu ahnen, dass den Gästen beim Anblick so viel prallen Fleisches das Wasser im Munde zusammenlief. Sie hielt den Blick gesenkt und stieß den langen Holzspieß in die Filets, um sie über dem Feuer zu wenden.

Der Hof wurde von Weinranken überdacht, die sich unter den reifen Trauben durchbogen. Vor den gekalkten Wänden des Hauses lagen Holzfässer. Rittlings hockte ein dunkelhäutiger Bursche darauf, der lustlos auf den Saiten einer Braguinha herumklimperte.

»Auf die schwarze Samtige, die süßeste Frucht Madeiras«, sagte der Gastgeber und erhob das Glas. Niemand schaute auf die Gläser, die klirrend zusammengestoßen wurden. Alle Augen richteten sich auf die Schöne, und Kyle Bennetter ergänzte den Trinkspruch: »Ja, auf den schwarzen Samt der glücklichen Inseln.«

Carl lehnte sich zurück und nahm einen Schluck vom Wein. Dann blickte er auf die Mauer, die die Stirn des Hofes bildete. Eine Eidechse saß auf den vom Sonnenlicht beschienenen Steinen. Im Hinterland erhoben sich die Berge. An ihren Hängen konnte er großzügig angelegte Felder ausmachen, die von in Reih und Glied stehenden Weinstöcken durchzogen wurden. Arbeiter, die an ihrer Hautfarbe selbst auf die Entfernung als Afrikaner erkennbar waren, durchstreiften die schmalen Gänge zwischen den Reben.

Auch wenn der Sklavenhandel vor Jahren auf dieser Insel abgeschafft worden war, hatte sich kaum etwas geändert. Immer noch vollzogen die gleichen Männer die gleichen Arbeiten. Gleichmäßig ernteten sie die Trauben, um sie in die Körbe zu werfen, die sie auf ihren Rücken trugen. Später würden die Früchte von ihnen gemaischt und gekeltert werden, damit die Engländer in ferner Zukunft den gereiften Rebsaft in alle Welt verschiffen konnten. Von dem Vermögen, das die Weinhändler einstrichen, frönten sie dem Müßiggang, sich selbst oft die besten Kunden. Carl nahm einen weiteren Schluck. Bennetter hatte recht. Seit die Portugiesen den Weinhandel an die Engländer abgetreten und findige Kaufleute den Export unter sich aufgeteilt hatten, ließen sie es sich in dem milden Klima gut ergehen. Sie hatten ihr Glück gefunden.

Kapitän Taylor saß neben dem Gastgeber, der schnell trank, ohne ein Anzeichen, dass ihm der Alkohol zu Kopfe stieg. Freundlich und reserviert diskutierte Taylor mit seinem Gegenüber, welche Weinsorten an Bord verladen werden sollten. Immer wieder drückte er die genannten Preise zu seinen Gunsten, was der Weinhändler mit lautstarken Seufzern kommentierte.

Unverhohlen musterte Carl ihn. Du Ärmster. Wir werden dich ruinieren, aber deine Selbstlosigkeit kennt ja keine Grenzen. Ein Parasit bist du! Wie du hier schacherst und dich anbiederst, uns auch noch Zwiebeln, Fenchel und Ziegen zu besorgen. Du wirst schon deinen Profit machen, sorge dich nicht. Er beugte sich vor und berührte Franklin Myers’ Arm. »Lass uns hernach so schnell wie möglich aufbrechen, ich möchte noch in die Nebelwälder hinauf.«

Unwillig löste Franklin den Blick von seinem Teller, auf dem der erste Fleischspieß lag. Der Schatten einer Enttäuschung huschte über sein Gesicht. »Es ist ein gutes Stück Weg in den Norden, und wir werden auf dieser Insel kaum noch relevante Entdeckungen machen können.« Franklin war ein Gourmet, und nach den vergangenen Wochen karger Schiffsspeisung lag ein Nachmittag kulinarischer Völlerei vor ihm.

Doch heute, entschied Carl, würde er ihm die Gelegenheit nehmen. Denn heute waren es seine Sinne, die ihrer Bestimmung folgen wollten, deren Befriedigung sie nachkommen würden. Den Ruf der Silberhalstaube zu vernehmen. Den Geruch feuchter Erde einzuatmen. Im Unterholz die Berührung des Farns auf der Haut zu spüren. Wilde Beeren im Mund zergehen zu lassen. Sich am Lichtspiel des Waldes sattzusehen. Er musste aufbrechen, und Franklin hatte ihn zu begleiten. »Wir bekommen einen Wagen zur Verfügung gestellt. Nach dem Essen brechen wir auf.« Seine Stimme schloss jeden Widerspruch aus.

Der Lorbeerwald. Laurisilva. Schöner kann kein Frauenname klingen. Bei diesem Gedanken hörte Carl sein eigenes Lachen, tief und zufrieden verlief es sich im Dickicht der eng stehenden Bäume. Er legte Zeige- und Mittelfinger unter sein Handgelenk und spürte das heftige Pulsieren. Ob er zum Essen doch zu viel getrunken hatte?

Oder hatten ihm die Erlebnisse der letzten Wochen zugesetzt? Es hatte sich doch alles in seinem Sinne entwickelt. Den Machtkampf um Abraham Miller hatte er für sich entschieden, denn er hatte gewusst, welche Hebel er bedienen musste, und wie so oft war das Geld das Zünglein an der Waage gewesen. Kein schönes Mittel, sich durchzusetzen, doch seit knapp zwanzig Tagen war er auf See unter Kapitän Taylors Kommando.

Was hatte ihn derart aus dem Gleichgewicht gebracht?

Wie lange hatte er an der Seekrankheit gelitten? Vielleicht zwei, drei Tage? Hatte ihn das geschwächt? Es war unwichtig, das zu ergründen.

Er war hier.

Zufriedenheit durchspülte ihn mit schweren Wellen. Und Franklin spürte, dass er ungestört sein wollte. Dass der würzige Geruch der Lorbeerbäume sich einem Mantel gleich um ihn legte und sich für diesen Moment zwischen ihn und die Welt schob. Zu schnell würden ihn die Verpflichtungen wieder einholen. Empfänge beim Konsul und Gouverneur standen noch an sowie der Besuch bei Thomas Heberden, dem ortsansässigen Fachmann in Fragen der Naturgeschichte. Es würde keine Zeit bleiben, die Insel genauer in Augenschein zu nehmen. Er musste den Moment auskosten.

Ein Madeiraveilchen blühte zu seinen Füßen. Er beugte sich vor. Vorsichtig legte er mit den Fingern die Wurzeln frei, zog die Pflanze aus dem Boden, strich über den zarten Blütenkopf und roch daran. Dann öffnete er seine Botanisiertrommel und legte sie zu den anderen Sammlungsstücken. Das war sein Leben: jagen und sammeln. Er war Jäger und Sammler zugleich, immer auf der Suche nach neuer Beute, die er sich zu eigen machen wollte, auf dass sie ihm ihre Geheimnisse preisgab.