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***

»Sie spielen um Geld, Nat.«

Eine Falte bildete sich auf der Stirn des Bruders. »Ja, ich weiß, du Schlaumeier.«

Seth schaute auf die Karten, die vor den Männern in der Runde lagen. Bild um Bild wurden sie übereinandergelegt.

Nats Augen glitzerten. Er schien zu verstehen, was vor sich ging, denn er klatschte in die Hände, als Bartholomäus den Kartenfächer vor sich auf die Planken legte.

»Warum darf Barth jetzt die Münzen nehmen?«, fragte Seth.

»Schht, sei still.« Nat legte den Finger auf die Lippen und schaute ihn nicht einmal an.

»Das ist verboten. Die dürfen nicht um Geld spielen.«

Nats Ellbogen traf ihn am Oberarm. Seth schluckte. Das werde ich dem Vater erzählen, schwor er sich. Dass die Männer machen, was sie wollen, sobald er nicht an Bord ist. Dass sie um Geld spielen, dass sie gotteslästerlich fluchen und dass Nat dabeisitzt. Und Vater ist so schlechter Laune, seitdem wir abgelegt haben, der wartet nur auf einen Grund, irgendwen in der Luft zu zerreißen. Einen Moment hoffte er, dass Nat aufblicken würde. Doch nichts geschah, und Seth sprang auf.

Um die Bank des Segelmachers saßen mehrere Matrosen. Er schlenderte hinüber, wiegte sich dabei in den Knien und setzte die Schritte in die Breite. Seitdem das Schiff Plymouth verlassen hatte, liefen die Männer federnd und breitbeinig über Bord, um das beständige Schwanken auszugleichen. In nichts wollte Seth ihnen nachstehen, vielleicht würde ja auch aus ihm einmal ein weltgereister Teufelskerl werden.

Segelmacher-Johns Welt reichte bis zu seinen Fingerspitzen. Wahrscheinlich konnte er nicht einmal die eigenen Zehen sehen, so schlecht waren seine Augen. Doch seine Arbeiten verrichtete er wie kein Zweiter an Bord. Seth hatte ihn beobachtet, wie er Schlaufen und Ösen nähte, wie er Risse flickte und die Größe jedes Segels berechnete, wenn man ihm die Länge der Masten nannte.

Es erschien Seth selbstverständlich, dass jemand, der so schlecht sah, gut hören konnte. Und Segelmacher-John hörte alles. Anscheinend lösten seine trüben Augen die Zunge anderer, und sie erzählten ihm, was an Bord geschah, was sie zu Hause oder auf Reisen erlebt hatten, und die, die nichts aus ihrem Leben berichten konnten, erfanden Geschichten. Der Segelmacher vergaß kein Wort. Er wusste alles, da war Seth sich sicher. Und so schienen die Geschichten wie Unkraut in seinem Kopf zu wuchern. Die Männer saßen um ihn herum und brüllten erfreut dazwischen, wenn dieses oder jenes aus ihren Erzählungen stammte. So lauschten sie allesamt und ließen sich in fremde Welten von Piraten, Seeungeheuern, Hellsehern, Zauberern und schönen Frauen entführen.

Seth hielt kurz am Wasserfass inne. Er knüpfte seinen Becher von der Kordel, die er um seine Hüfte geschlungen hatte, damit die Hose ihm beim Laufen nicht in die Knie rutschte. Während er Wasser schöpfte, versuchte er zu verstehen, worüber die Männer an der Segelmacherbank sprachen. Wenn sie wieder über Frauen redeten, entschied er, wollte er lieber weitergehen. Segelmacher-John benutzte in seinen Geschichten oft Wörter, für die Nat und er vom Vater gewaltig eine verpasst bekommen hätten. Kurz glaubte Seth den Lappen zu schmecken, den seine Mutter bei der Verwendung schmutziger Wörter benutzt hatte, um ihnen die Münder zu waschen. Gut, dass sie nicht hören konnte, was die Männer hier auf dem Schiff einander gelegentlich zutrugen. Ekelhafte Beschreibungen, und die ließen ihn rote Ohren bekommen. Am schlimmsten war jedoch das Lachen der Männer, das noch kehliger wurde, wenn sie über springende Brüste, gespreizte Schenkel und nasse Löcher sprachen.

Ein junger Mann in Uniform mit einem Dudelsack trat an die Segelmacherbank. Überrascht schaute Seth ihn an. Er hatte bisher nicht gewusst, dass irgendwer an Bord ein Instrument spielte.

»Darf ich euch Lukas vorstellen, den Mann mit den wahrhaft flinken Fingern hier an Bord?«, rief Segelmacher-John in die Runde und klatschte in die Hände. »Setzt euch alle, und lauscht unserem Wunderkind.«

Schnell lief Seth zur Bank hinüber und schob sich zwischen die Männer. Links neben ihm hockte der Zimmermann, dem zwei Schneidezähne fehlten. Noch während Seth ein wenig beiseiterutschte, erklangen die ersten Töne. Fasziniert beobachtete er die Finger, die über die Löcher der Pfeifen flogen. Lukas war wirklich einer der Seesoldaten?, fragte er sich erstaunt. Immer saßen sie ein Stück abseits und hielten sich für etwas Besseres. Doch der, der schien anders zu sein. Er gesellte sich zu ihnen und machte Musik. Laute und traurige Lieder, die über Deck tanzten.

Seths Blick wanderte über Johns hölzerne Arbeitsbank. An den Längsseiten waren Schlaufen mit Nägeln angeschlagen, in denen verschiedene Hämmer, Garnrollen und Beitel verstaut waren. Das Horn einer Kuh hing neben den Werkzeugschlaufen, in ihm steckten Nadeln, dicke, lange Nadeln. Hoffentlich wird Dan nie eine davon in die Finger bekommen. Sicher wird er sie mir in den Oberschenkel rammen oder in den Arm. Wo ist Dan überhaupt? Zufrieden bemerkte er, dass er ihn an Deck nicht entdecken konnte.

Die Kartenrunde hatte sich aufgelöst, und einige der Spieler kamen herüber. Auch Nat war unter ihnen. Er blieb neben Seth stehen und kniff ihn in den Arm. Genau an der Stelle, an der er ihn zuvor mit dem Ellbogen getroffen hatte. »Na, Kleiner«, sagte er grinsend.

Seths Bauch fühlte sich warm an, als sich Nat neben ihn setzte, die Beine kreuzte und der Musik lauschte. Eigentlich ist es ja ganz schön hier, wenn Vater zu seinem Essen ist, stellte er fest. Hoffentlich bleibt er noch ein Weilchen weg.

***

Vierundzwanzig Schritte in die eine Richtung, vierundzwanzig Schritte in die andere. Vom Bug bis zum Heck und zurück. Mary lief das Deck auf und ab, immer wieder mit der Insel liebäugelnd, die mit ihrer Schönheit lockte und rief. Wie ein Tuch, das großzügig um den Hafen geworfen worden war, lag Funchal vor ihnen. Die Ausläufer der Stadt zogen sich bis in die Berge hinein und ließen an ein Amphitheater denken. Die Hänge schienen sich in der Mitte der Insel zu einem einzigen Berg zusammenzudrängen. Ein Berg, der sich weithin sichtbar aus dem Meer erhob, greifbar nahe, und den sie nicht betreten durften. Weiß schimmerten die ein- bis zweistöckigen Häuser in der flirrenden Mittagssonne.

Rechter Hand lag vertäut die Marinefregatte Rose, die die Sailing Queen bei ihrer Ankunft im Hafen mit Salutschüssen begrüßt hatte. Nun schien das Schiff verwaist, sanft schwankte es auf den Wellen. Hier und da konnte sie vereinzelte Seesoldaten ausmachen, die als Wachen zurückgelassen worden waren.

Im Hafen dagegen herrschte geschäftiges Treiben. Hier mischten sich die verschiedensten Hautfarben, so wie sie der Vater Mary immer beschrieben, die sie aber noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte: erdschwarz, olivbraun, sand- und elfenbeinfarben. Stundenlang hatte sie an der Reling gestanden und sich nicht sattsehen, sich am Stimmgewirr nicht satthören können. Es war ihr unmöglich gewesen, zu unterscheiden, wie viele Sprachen hier gesprochen wurden, wie viele Menschen aus aller Herren Länder an diesem arkadischen Ort aufeinandertrafen.

Die Männer kleideten sich überwiegend mit Hosen aus Leinenstoffen und groben Hemden, die Köpfe bedeckten sie mit großen Hüten. Die Frauen ließen ihr Haar unbedeckt, manche von ihnen hatten es zu einem Knoten zusammengesteckt. Die langen Röcke und kurzen, engen Leibchen kombinierten sie mit kleinen Mänteln und waren hübsch darin anzusehen. Manche Frauen waren groß, hatten lange, ebenmäßige Gesichter und dunkles Haar, bei anderen war der Wuchs kleiner, das Haar gekraust.

»Die Ilhas Desertas. Schön, oder?« Bartholomäus schaute auf ihre Beine, passte sich ihren Schritten an und lief mit ihr zum Bug vor.

Mary nickte. »Ja, aber warum man diese Inselgruppe die Wüsteninseln nennt, verstehe ich nicht. Sie sind so grün.«