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»Das versteht keiner.« Bartholomäus lachte. »Die Männer deuten den Namen auf ihre Weise und nennen die Inselgruppe schlicht die Deserteure. Die erstbeste Gelegenheit und vielleicht auch die letztbeste, sich abzusetzen, wenn man festgestellt hat, dass man für die Seefahrt nicht taugt.«

»Bekommt die Mannschaft deshalb keinen Landgang?«

Bartholomäus zuckte die Schultern.

»Meinst du, wir werden noch an Land gelassen?«

»Ich denke, nicht. Taylor kennt seine Jungs, und da er keine Zeit damit verlieren will, trunkene, liebestolle oder melancholische Männer, die sich nach zu Hause sehnen, auf der Insel suchen zu lassen, gibt’s wahrscheinlich keinen Ausgang mehr.«

Mary musterte die Mannschaft. Die Männer der Freiwache vertrieben sich die Zeit sinnlos an Deck. Hingen immer wieder an der Reling und beobachteten die Insel oder liefen unruhig auf und ab. Einige saßen in kleineren Gruppen beieinander und schwiegen. An der Segelmacherbank begann einer, den Dudelsack zu spielen. Ein klagendes Lied, das die Wehmut verstärkte. Alle Anekdoten unserer nichtssagenden Leben sind in den letzten Tagen erzählt worden. Dort draußen liegt neuer Gesprächsstoff. Großartige Eindrücke, andere Gerüche, fremde Menschen, unbekannte Sitten und Bräuche. Wie viele von den Männern haben wie ich das erste Mal die Heimat verlassen? Wie viele von ihnen sehen das erste Mal ein fremdes Land vor sich und dürfen es nicht betreten?

»Macht Euch nichts daraus«, sagte Bartholomäus. Sie drehten am Bug um und liefen zum Heck zurück. Sie mussten dem Astronomen, der ihnen entgegenkam und selbst am helllichten Tag den Kopf gen Himmel gerichtet hielt, ausweichen. »Es wird noch viele Landgänge geben, und der Anblick dieser Stadt verspricht mehr, als er hält. In den Gassen ist es wie bei uns zu Hause: eng, schmutzig und stinkend.«

Er hatte die Insel immerhin schon einmal gesehen.

Mit dem Arm wies Bartholomäus auf den Hafen. »Sieh, sie bringen die Vorräte. Bald werden wir ausschiffen.«

In langen Reihen trugen dunkelhäutige Männer Weinschläuche über ihren Köpfen an Deck hinauf.

Eilfertig sprangen ihnen die Matrosen entgegen. Dankbar, eine Aufgabe übernehmen zu können, ergriffen sie die wertvolle Fracht und brachten sie in den Laderaum. Zwiebeln, Fenchel, Weintrauben und Kastanien konnte Mary unter den Waren, die verstaut wurden, erkennen.

Plötzlich entdeckte sie Carl Belham und Franklin Myers, die an Bord zurückkehrten. Franklin hob die Hand und bedeutete ihr, zu ihnen hinüberzukommen.

Sie nickte Bartholomäus kurz zu und folgte den Männern auf das Achterdeck. Geschäftig eilten die beiden den Gang hinunter zur Offiziersmesse, und Mary wurde unruhig. Sie haben Netze bei sich und ihre Botanisiertrommeln. Ich dachte, dass die Zeit für eine Expedition zu knapp bemessen war. Wo waren die beiden?

Franklin verschwand wortlos in ihrer gemeinsamen Kajüte, während Carl am Kopf des Flures mit dem Fuß die Tür zur Offiziersmesse aufstieß. Mary hielt sie auf, damit er eintreten konnte.

Mehr als zwei Wochen war sie nun bereits an Bord und hatte den Aufenthaltsraum der Gentlemen noch nicht betreten dürfen. Durch die fünf großflächigen Sprossenfenster, die man eigens in das Heck des Schiffes eingelassen hatte, bot sich ein berückender Anblick: das türkisfarbene Meer, auf dessen Wellen kleine Schaumkronen tanzten, und im Hintergrund lag die Insel, die immer noch lockte und rief.

Der Raum war sonnendurchflutet, und das Licht verlieh dem Holzfußboden einen warmen Braunton. Das ist etwas anderes als die verdreckten und vollgepissten Bohlen des Matrosendecks. Eine andere Welt, eine Holzlänge entfernt.

Die Türen des Schrankes waren geöffnet, Buch an Buch reihte sich auf den Brettern, die sich unter dem Gewicht sanft bogen. Anhand der Titel auf den Buchrücken konnte Mary erkennen, dass sie dem Astronomen Peacock gehören mussten. Dazwischen standen Abschriften von Cooks Logbüchern und Wallis’ Reiseaufzeichnungen. Hinter dem weißen Schrank glänzten rotgelackte Wände. Am meisten überraschte sie jedoch der Kamin, der den Rußspuren zufolge schon mehrfach befeuert worden war.

»Nimm Platz«, sagte Carl und wies auf den großen Tisch, der mitten im Raum stand. Dabei legte er seine Botanisiertrommel auf die Holzplatte, ließ den Deckel aufspringen und begann, vorsichtig erste Pflanzen hervorzuziehen. »Jetzt beginnt die Arbeit. Erst zum Abend, wenn das Essen ansteht, wird der Tisch wieder gebraucht. So lange kannst du hier arbeiten. Also spute dich, nicht dass uns die Pflanzen noch stärker verwelken.« Er grinste.

Mary schluckte und setzte sich auf den erstbesten Stuhl. Sie konnte sich nicht zur Holzplatte vorbeugen und die Arme ablegen, zu weit stand der Tisch entfernt. Um Carl nicht in seiner Geschäftigkeit zu stören oder gar unaufmerksam zu wirken, griff sie langsam nach dem Stuhl und versuchte, ihn ein Stück vorzuziehen. Als er sich nicht bewegen ließ, schaute sie an ihrem Arm vorbei zu Boden. Tisch und Stühle waren mit den Planken verschraubt. Den Rücken durchdrückend, blieb sie stocksteif sitzen.

Carl reihte die letzten Pflanzen nebeneinander auf. Vielleicht war das ja die Gelegenheit, mehr zu erfahren.

»Sehr schöne Exemplare«, sagte sie und hasste den gefälligen Ton in ihrer Stimme. »Ihr wart auf Exkursion? Wohin hat sie euch denn geführt?«

Franklin betrat den Raum und trug allerlei Arbeitsmaterialien auf dem Arm. Eine Kiste, Papiere, mehrere Blütenpressen.

Carl schaute zu ihm hinüber und rieb sich die Hände. »Sehr schön, sehr schön. Dann fang an, Marc, ich möchte heute Abend erste Ergebnisse sehen. Franklin wird dich mit meinen Anforderungen an die Arbeit des wissenschaftlichen Stabes vertraut machen.« Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ er die Offiziersmesse.

Franklin öffnete die Kiste und packte ein Fässchen Sepia-Tinte und Gänsekielfedern aus.

»Ihr wart auf Exkursion? Wo wart ihr denn?« Wenigstens er musste ihr antworten.

»In den Nebelwäldern waren wir, ziemlich weit oben, im Lorbeerwald. Aber das war keine Exkursion im eigentlichen Sinne. Carl«, er senkte verschwörerisch die Stimme, »brauchte ein wenig Auslauf.«

Mary nahm das Veilchen, dessen gelber Kopf schon bedrohlich abknickte. »Wäre es denn nicht sinnvoll, ich würde euch bei den Exkursionen oder Ausflügen begleiten? Als Teil des wissenschaftlichen Stabes?«

»Ach, das ist eigentlich nicht vonnöten. Es ist sinnvoller, wenn du hierbleibst. Hier sind die Arbeitsbedingungen besser, es ist kühler und windgeschützt. Da halten sich die Pflanzen länger. Uns ist ja an der Qualität der Zeichnungen gelegen. Die restliche Arbeit vor Ort, die bekommen wir schon hin.« Er lächelte arglos und zeigte auf die Pflanzen. »Was denkst du, mit welcher sollte man beginnen?«

Mary fror. Sie sollte hier in dieser Messe sitzen, an diesem Tisch, und nichts von der Welt, die sie bereisten, sehen? Nur in ihrer freien Zeit könnte sie vielleicht das Schiff verlassen, um ein wenig an der Küste herumzutändeln? Was hatte Bartholomäus gesagt? Wie nannte die Mannschaft die Inseln? Die Deserteure? Jetzt wusste sie, warum, und sie sollte darüber nachdenken, ihrem Namen Ehre zu machen. Vielleicht war es an der Zeit für sie, das Schiff zu verlassen.

Madeira, 8. August 1785

»Ich werde nicht umhinkommen«, sagte Kapitän Taylor, »ansonsten riskieren wir eine Meuterei. Die Männer müssen sich abreagieren, ihren Druck loswerden. Vor ihnen liegt eine lange Strecke, auf der sie kein Weib zu Gesicht bekommen werden.«

»Himmel, das sind erwachsene Männer«, entgegnete Carl und schüttelte unwillig den Kopf.

»Das ist ja das Problem«, ein feines Lächeln zog über Taylors Gesicht. »Erinnert Euch bitte daran, wie sich selbst unsere Gentlemen beim Weinhändler verhalten haben.«