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Wütend stieß sie mit dem Finger auf seine Brust ein. »Gestern, als der Wind aufkam, sind die Kinder zum Wasser gelaufen. Ich dachte, sie wollten mit den Wellen gleiten. Also habe ich Tupaia gefragt, ob er nicht sein Brett mitnehmen wolle. Weißt du, was er geantwortet hat? Er brauche das Brett nicht, sie wollten lieber Eisen suchen. Die Kinder hofften, der Wind würde wieder Eisen an den Strand spülen. Hat hier niemand mehr etwas anderes im Kopf als dieses von den Göttern verdammte Eisen?«

Ihr Finger ließ von seiner Brust ab und strich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Sie atmete tief ein, und ihre Stimme war vor Trauer flach, als sie weitersprach. »Ich entgegnete, dass lange kein Schiff der Fremden mehr in der Gegend gesehen worden ist und dass er kaum finden wird, wonach er sucht. Tupaia hat mich mit einem mitleidigen Blick stehen lassen und ist mit seinen Freunden ans Wasser gelaufen. Und was haben sie getan? Sie haben Eisen gesucht, anstatt sich auf den Wellen treiben zu lassen.«

Owahiri ließ die Axt in den Sand fallen. Er zog Revanui an sich und schlang die Arme um sie. Was soll ich dir erwidern?, fragte er sich. Manchmal bin ich mir selbst unsicher, ob du nicht doch recht hast. Vielleicht hat der Besuch der Männer mit den eckigen Köpfen und den hellen Augen letztlich mehr Leid als Freude gebracht. Ich weiß es nicht, ich finde keine Antwort auf diese Frage.

Revanui legte ihre Wange auf seine Schulter. Ihm wurde leicht ums Herz, und er schwieg, um sie nicht mit einem unbedachten Wort weiter zu erzürnen. Sein Blick fiel auf die Axt, den hölzernen Schaft und den grauen Keil. Ja, es war sinnvoller, zu schweigen. Denn wenn er ehrlich sein wollte, musste auch er zugeben, dass das Werkzeug der Fremden tatsächlich besser war. Besser als seine Steine und Muscheln.

Atlantischer Ozean, 20. August 1785

Menschen stinken. Sobald sie den Mund öffnen, die Arme heben, die Mütze abnehmen, die Schuhe ausziehen, wenn sie beim Essen rülpsen, im Schlaf furzen oder bei Seegang kotzen – alles an ihnen stinkt. Und jetzt beginnt auch das Schiff zu stinken. Seth seufzte. Nicht nur, dass die Menschen stanken, das Brot nach Schimmel schmeckte, die Stoffe Stockflecken bekamen, Eisenteile verrosteten und das Holz aufquoll, jetzt verreckten auch die Viecher an Bord. Sie stanken dabei nicht minder.

Es musste eine Ratte gewesen sein, die unter dem Beiboot verendet war. Eine Ratte, deren Gestank nun im Holz festhing. Ihr Schwanz war noch auszumachen, der Körper glich jedoch inzwischen einer breiigen Masse.

Ein Würgen überkam Seth, und er schaute schnell auf seine Hand, die den Scheuerstein über die Decksplanken schob. Er spürte, dass der Schorf, der seine Knie überzog, wieder aufweichte. Mit jedem Voranschieben der Knie drückte sich der Stoff der Hose tiefer in die Kruste aus Blut, Eiter und Dreckswasser. Der immer gleiche Ablauf, bis er aufstehen und den Stoff mit einem Ruck aus den faustgroßen Wunden ziehen und aufkrempeln konnte. Schon jetzt freute er sich darauf, den aufgeweichten Schorf mit den Fingern abzukratzen.

Die Segel hingen schlaff an den Masten. Ein weiterer Tag widerlicher Windstille würde sich an den nächsten reihen. Wieder brannte die Sonne aufs Deck und machte die Männer träge. Seth hörte, dass vom Ausguck eine Sandbank gemeldet wurde. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Senkbleie ausgeworfen wurden, um die Tiefe des Wassers zu bestimmen.

Der moderige Geruch der Ratte schob sich wieder in seine Nase. Denk an fliegende Fische. Denk daran, wie sie über die Schaumkronen springen. Vor seinen Augen tauchten die Fischleiber auf. In geraden und geschwungenen Linien flogen sie über das Wasser, und wenn sie die Spitze einer Welle im Fluge trafen, verschwanden sie und schossen kurz darauf aus der Schaumkrone wieder empor. Der Gedanke machte die Arbeit nicht leichter. Er veränderte die Hitze nicht und lenkte nicht von den schmerzenden Knien ab. Und: Die Ratte war immer noch da. Immer noch lag sie unter dem Beiboot. Seth hatte keine Wahl. Er schob die Hand vor und zog am Schwanz, der sich kalt und schmierig anfühlte. Inzwischen wurden die Senkbleie wieder eingeholt, irgendwer rief etwas von fünfzig Faden Tiefe.

Denk an was anderes. Vielleicht laufen wir ja auf eine Sandbank auf. Das wäre ein Abenteuer! Wir müssten Wasser pumpen und Ballast abwerfen. Und das Leck, ich würde es stopfen, weil kein anderer an die Stelle herankäme. Da würde niemand nach einer Ratte fragen.

Der Knall war dumpf und laut. Seth schlug mit dem Kopf an den Rumpf des Beibootes und spürte das Zittern, das den Schiffsleib durchlief. Er ließ sich bäuchlings auf das nasse Holz fallen und sah nun die Ratte direkt vor sich liegen. Männerstimmen brüllten durcheinander, jemand lief an ihm vorbei. Sofort sprang Seth auf. Lieber Gott, hilf mir. Ich habe das nicht so gemeint. Ich wollte nicht, dass wir auf eine Sandbank auflaufen. Ich räume die Ratte weg, wirklich, flehte er und hob den Kopf gen Himmel. Was ist, wenn wir ertrinken? Rasch warf er einen Blick aufs Wasser hinaus. Die Sandbank, wo war sie? Er suchte weiß schimmerndes Wasser, das einlud, über Bord zu springen, weil man meinte, es sei nur knöcheltief und man könne festen Grund unter den Füßen spüren. Er sah nichts dergleichen. Das Schiff lag in schwarzblauem Wasser.

Dan riss Seth an der Schulter und zeigte vor zum Fockmast. »Komm schon, du Hosenscheißer. Es ist die Bierwürze.«

»Was? Bier-was?«

»Die Bier-w-ü-r-z-e, du Idiot. Ein Fass mit eingekochter Bierwürze ist vergoren und explodiert. Die Fässer wurden zum Kühlen an Deck gebracht.«

Erleichtert atmete Seth auf. Ein Fass ist explodiert. Danke, lieber Gott, danke, dass du mich erhört hast.

Im Laufen entdeckte er Segelmacher-John, der auf den Planken saß und den Hauptmast umschlungen hielt. »Das haben wir jetzt davon, dass wir ohne Begleitschiff reisen. Wir laden die Piraten ja ein, uns zu überfallen«, brüllte er.

Seth trat hinter ihn und schaute auf das verfilzte Haar des Hinterkopfes, das vor ihm auf und ab wippte.

»Hau ab, Kleiner. Solange du noch kannst.«

Für einen Moment überlegte Seth, wie dieser Halbblinde das machte: Menschen erkennen, ohne sie zu sehen. Konnte er den Schritt eines jeden heraushören? Roch er, wer vor ihm stand? Vielleicht ging ja auch von ihm ein ganz eigener Gestank aus, den Segelmacher-John wahrnahm. »Es sind keine Piraten«, sagte er sanft. »Eines der Fässer mit der Bierwürze ist in der Sonne explodiert.«

Segelmacher-John ließ den Hauptmast los und drehte sich zu Seth um. Das rechte Auge hatte keine wirkliche Farbe mehr, grau getrübt starrte es ihn an. Die Pupille war dunkel und weit. Das andere Auge schielte linkerhand an ihm vorbei. »Die Bierwürze? Was macht die an Deck?«

»Einige der Fässer sind vergoren, und die restlichen sollten im Fahrtwind gekühlt werden.«

Segelmacher-John lachte auf. »Du meinst, unser gutes Bier fließt gerade in Strömen übers Deck?«

Eine erneute Explosion auf der Höhe des Fockmastes ließ beide zusammenzucken. Dieses Mal mischten sich in das Gebrüll der Männer Schmerzensschreie, irgendwer rief um Hilfe.

Segelmacher-John kniff die Augen zu und schlug das Kreuz über seiner Brust: »Heilige Maria, steh uns bei. Es sind doch Piraten! Verschwinde, Junge, schnell!«

Seth duckte sich hinter Segelmacher-Johns Rücken und klammerte sich an dessen Hemd fest.