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Was mache ich jetzt? Segelmacher-John weiß immer alles. Dan muss sich irren, es sind doch Piraten. Wenn ich zum Fockmast laufe, töten sie mich. Ich habe nicht einmal eine Waffe. Und wenn ich über Deck springe, ersaufe ich. Es ist wie bei den fliegenden Fischen. Sie retten sich vor Feinden mit einem Sprung aus dem Wasser und werden in der Luft von Vögeln abgefangen.

Er duckte sich noch tiefer und spannte die Arme an. Ich bin aber kein Fisch, schrie es in ihm, und er stieß sich von Segelmacher-Johns Rücken ab. Um sich Mut zu machen, riss er die Fäuste in die Höhe, ließ ein Brüllen erklingen und rannte über das Schiff. Den Männern entgegen, die sich über andere bückten, die sich gekrümmt am Boden wanden. Piraten konnte er keine entdecken, sie mussten wohl aus dem Hinterhalt angreifen. Er drehte sich im Kreis. Hilferufe, Befehle und Schmerzensschreie ließen sich nicht mehr entwirren. Fast taub vor Angst, riss er die Fäuste umso höher und stürzte vor in das Knäuel aus Menschen und Geräuschen.

Die nächste Explosion ließ das Schiff erbeben.

Seth hob schützend den Arm vor sein Gesicht, und gleichzeitig spürte er einen Druck, ähnlich einem Windstoß, der über ihn hinwegzog.

Im selben Augenblick wusste er, dass er getroffen worden war.

Er packte an sein Bein.

Warm und feucht war der Stoff seiner Hose.

Gleichzeitig wurde ihm schlecht. Der Länge nach sackte er in sich zusammen und landete unsanft in der aufspritzenden Bierwürze. Ihm war kalt, und sein Körper begann zu zittern. Er konnte kaum die Hand heben, so schwer fühlte sie sich an, dann sah er die blutverschmierten Finger. Sein Mund stand offen, das spürte Seth, ein offener Mund, um aufzuschreien. Doch die Angst umklammerte seine Kehle und schnürte die Laute ab. Dann erst kam der Schmerz. Mit voller Wucht griff er in den Oberschenkel.

Ich blute! Ich blute wie ein Schwein. Was ist hier los? Helft mir, bitte, helft mir …

***

Es gilt, den Kopf zu bewahren. Eine Analyse der Situation vorzunehmen, um zu einem Ergebnis zu kommen, das es ermöglicht, die nächsten Schritte einzuleiten. Noch während Carl zum Fockmast rannte, ließ er den Blick über die Unglücksstelle wandern.

Kapitän Taylor stand an der Reling und suchte mit dem Fernrohr den Horizont ab. Kyle Bennetter, Peter Sohnrey und Randy Hall, ein angehender Offizier mit schiefer Nase, liefen über das Deck und brüllten den Männern, die unverletzt waren, Befehle zu. Jagten sie die Masten hinauf, die Segel backzubrassen, um dem Schiff die Fahrt zu nehmen. Eine Sandbank musste umschifft werden, so viel konnte Carl ihren Befehlen entnehmen. Senkbleie wurden ausgeworfen, und die Ansagen zur Tiefe des Wassers, die immer wieder ausgerufen wurden, gingen im Tumult beinahe unter. Der Kapitän und seine Offiziere waren unverletzt und hatten das Geschick des Schiffes im Griff. Wenn wir jetzt noch auf eine Sandbank auflaufen, wird es kritisch, dachte Carl, als er das Ausmaß des Unglücks am Fockmast überblickte. Zehn Verletzte, vielleicht fünfzehn. Das sind bis zu dreißig Hände, die fehlen, um zu pumpen und Ballast abzuwerfen, wenn das Schiff leckschlägt. Die Hände derjenigen, die noch Verletzte versorgen können, nicht einmal eingerechnet.

Er beugte sich zum ersten Verletzten hinab. Eine Schramme im Gesicht, die blutete, aber zweifelsfrei mit der Behandlung noch warten konnte. Die überwiegende Zahl der Männer war offensichtlich von herumfliegenden Splittern der explodierenden Holzfässer getroffen worden. Die vergorene Bierwürze hatte sich dicksämig über die Planken verteilt. Ein Seesoldat und zwei Matrosen versuchten, die Verletzten aus dem Sud zu ziehen. Ohne mit den Füßen stabilen Stand und Halt zu finden, glitten sie auf den schmierigen Planken hin und her.

Toni, der Zimmermann, rutschte vier, fünf Fuß von Carl entfernt auf Knien über das Deck. Mit der linken Hand presste er den rechten Arm an den Oberkörper. Der Arm ist ausgerenkt oder gebrochen, jede Bewegung muss höllisch schmerzen, überlegte Carl und sah, wie der Hüne vor Seth innehielt. Behutsam legte Toni den rechten Arm auf seinem Oberschenkel ab, dann fuhr die linke Hand vor. Er zog am blutdurchtränkten Stoff der Hose des Jungen, dann presste er die Handfläche auf die Wunde.

Seth schrie auf, doch der Druck stoppte die massive Blutung.

Carl machte es Toni nach und ging auf die Knie. Er fühlte, als er die Tasche öffnete und die Schere ergriff, dass die Flüssigkeit durch den Stoff seiner Strümpfe und Hose drang. Er nickte dem Zimmermann zu, die Wunde weiter unter Druck zu halten, und begann, den Stoff des Hosenbeines aufzuschneiden.

Carl legte die Schere aus der Hand und nahm das Nähzeug aus seiner Tasche. Kurz sah er sich um. Ob es die richtige Entscheidung war, den Jungen zuerst zu verarzten? Mit pumpender Bewegung war das Blut aus seinem Bein geschossen, innerhalb weniger Minuten wäre er verblutet. Doch war hier nicht überall Blut? Waren hier nicht überall offene Wunden? Die Panik war das Hauptproblem. Die Wucht der Explosionen, das Chaos und das Gebrüll konfrontierte die Männer mit ihrem ärgsten Gegner: der Angst. Der Seegang konnte das Schiff noch so arg beuteln, es mit Wasser volllaufen lassen, Hitze ihnen die Haut in Blasen werfen, Eiseskälte die Finger und Zehen abfrieren, das waren Seiten der Seefahrt, die sie kannten. Sobald aber die schiere Angst sie packte, dann weinten und greinten sie, riefen nach Frauen, Kindern und Müttern. Ich muss durchgreifen, entschied Carl und setzte zum ersten Stich an. Ich muss die Versorgung der Verletzten organisieren.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er Doc Havenport, wahrscheinlich hatte er von den Explosionen, vergraben in seiner Kajüte, erst jetzt Nachricht erhalten – anders ließ sein spätes Erscheinen sich nicht erklären. Die braune Ledertasche unter den Arm geklemmt, hielt er kurz neben Franklin inne, der einen Matrosen zur Reling zog.

Carl winkte Doc Havenport zu. Nie war ihm aufgefallen, wie alt der Schiffsarzt war. Wie sollten sie diesen gebrechlich wirkenden Mann wohlbehalten nach Hause bekommen? »Was haltet Ihr davon, Euch um die Schnittwunden zu kümmern«, rief er ihm zu, als er den Faden an der Wunde des Jungen verknotete und den verbleibenden Rest abschnitt. »Nehmt Myers mit. Ich werde«, er packte Marc Middleton, der an ihm vorbeieilte, am Arm, »mit ihm in der Offiziersmesse die Brüche und weiteren Wunden behandeln.«

Marc verharrte, und Carl spürte, dass sich der Körper seines Gehilfen versteifte. Manche brüllen vor Angst, die anderen haben einfach keine Worte mehr. Doc Havenport nicht, Marc nicht, und selbst Franklin sind seine Kommentare ausgegangen. Es ist, als würde ich mit mir selbst reden. »In meiner Kajüte steht linkerhand eine weitere Tasche mit allerlei medizinischen Gerätschaften, hole sie und bereite in der Offiziersmesse alles vor. Wir werden den Tisch zur Behandlung der Verwundeten brauchen«, wies er Marc an. Ohne eine Antwort zu erwarten, beugte er sich über den nächsten Verletzten.

»Wie kommt Ihr dazu, das Gesinde in die Offiziersmesse zu lassen?«

Carl sah auf und verspürte den Drang, seine Faust in Kyle Bennetters Fratze zu versenken. Dieser Unheilstifter zettelte eine Diskussion an! Jetzt. Hier in diesem Chaos. Er atmete noch einmal tief durch. »Wir haben schätzungsweise zehn bis fünfzehn Verletzte, die schnellstmöglich behandelt werden müssen. Wir haben keine Wahl, wir müssen die Messe kurzfristig zum Lazarett umfunktionieren. Und darüber werde ich nicht mit Euch diskutieren. Gern können wir die Frage aber wieder mit dem Kapitän besprechen.«

Bennetter schnaufte, drehte sich um und verschwand.

Carl grinste. »Lasst lieber das Deck zügig reinigen, damit wir weitere Stürze vermeiden«, rief er dem Bootsmann hinterher.

***

Er spürte, wie die Nadel in seine Haut stach und dass der Faden hindurchgezogen wurde. Es schmerzte nicht, aber die Angst ließ ihn schreien. Er schrie und schrie und erinnerte sich, als Kind stets gekotzt zu haben, sobald ihn die Angst gepackt hatte. Nach dem Kotzen war es ihm besser gegangen, müde und ausgelaugt hatte er dann seine Ruhe gefunden. Doch er konnte nicht kotzen. Den Kopf zur Seite gedreht, presste er das Gesicht gegen Tonis Hose. Sie war nass, stank nach Bierwürze und kratzte.