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Carls Augen weiteten sich: Ein Hüne ohne Zähne, ein Kerl, breit wie ein Schrank mit kindskopfgroßen Fäusten bedankte sich bei dem Hänfling, der ihn eben Höllenqualen hatte leiden lassen. Immer noch blass, ein wenig wankend, lehnte der Zimmermann sich an die Wand und rutschte an ihr entlang auf den Boden.

Sofort war Peacock zur Stelle. »Soll ich dich ins Mannschaftsdeck begleiten?«, fragte er in besorgtem Ton.

Der Zimmermann schaute ihn mit glasigem Blick an, hob wortlos den linken Arm und ließ sich auf die Beine helfen. Als die beiden Männer an Carl vorbeiliefen, fühlte er sich an Paracelsus erinnert: Nicht Titel und Beredsamkeit, nicht Sprachkenntnisse, nicht die Lektüre zahlreicher Bücher sind die Erfordernisse des Arztes, sondern die tiefste Kenntnis der Naturdinge. Er musterte seinen Gehilfen genauer.

Inzwischen kniete Marc auf dem Boden und schnitt mit einer Schere durch das Hosenbein eines Seesoldaten, der ihn willenlos gewähren ließ. Als das Knie freigelegt war, begann er, es vorsichtig zu drehen und zu wenden. Dabei wanderte sein Blick hoch zum Gesicht seines Patienten, um sicherzugehen, dass die Schmerzen bei der Untersuchung erträglich blieben.

Etwas Besseres als dieser Mann konnte uns gar nicht passieren, erkannte Carl und hockte sich neben seinen Gehilfen.

Der schaute kurz auf und lächelte. »Gut, dass du kommst, ich könnte hier deine Einschätzung gebrauchen.«

Nordatlantik, Kapverdische Inseln, 21. August 1785

Morgen für Morgen war es das gleiche Ritual. Ein Sprung aus der Koje, schlurfende Schritte zum Nachttopf, ein Gähnen, dann das Pinkeln. Im Anschluss daran wurde Wasser in die Waschschüssel gefüllt und die morgendliche Reinigung samt Rasur erledigt. Morgen für Morgen blieb Mary liegen, rührte sich nicht und hielt die Augen geschlossen, bis Franklin zumindest seine Hose übergezogen hatte.

Doch heute blieb Franklin mit einem Rundrücken auf der Kante der Koje sitzen. »Was war das für ein Abend«, seufzte er und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.

Mary rollte sich auf die Seite und schaute ihn an. Tief in der Nacht war er in der Kajüte erschienen und in voller Montur in die Koje gefallen. »Gab es Schwierigkeiten?«, fragte sie.

»Schwierigkeiten sind kein Ausdruck.« Franklins Stimme bebte vor Empörung. »Doc Havenport arbeitet mit Methoden, die grauen Vorzeiten entstammen. Die Entwicklungen der modernen Wundbehandlung sind offenbar spurlos an ihm vorübergegangen.« Er stieß sich von der Koje hoch und knöpfte sein Hemd auf. Dann stieß er mit dem Fuß den Nachttopf an und nestelte an seiner Hose herum.

Mary drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Ihr Abend war großartig gewesen, soweit man das bei solch einer Katastrophe denken durfte. Sie hatten sieben Patienten versorgt: ein ausgekugelter Arm, eine Quetschung, zwei Stauchungen und drei Frakturen. Drei der Männer waren durch die Explosionen von den Beinen gerissen worden, die anderen hatten sich in der darauffolgenden Panik oder beim Versuch, Hilfe zu leisten, verletzt. Zwei Patienten hatten zudem Schnittwunden durch umherfliegende Splitter aufgewiesen. Noch immer war Mary von Carls Souveränität und Fachwissen beeindruckt.

Gemeinsam hatten sie die Patienten behandelt und anschließend die Offiziersmesse wieder hergerichtet. Seine Hände waren groß, die Finger jedoch feingliederig und geschickt in ihren Ausführungen. Unentwegt hatte sie auf diese Hände schauen müssen.

Mary blinzelte. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Franklin aus seiner Hose stieg und sie auf den Boden fallen ließ. Warum musste dieser Mann so reinlich sein? Jeden Morgen die gleiche Prozedur. Sie presste die Augen zusammen und hörte ihn pinkeln.

Über das Plätschern hinweg sprach Franklin weiter: »Doc Havenport bedauerte, keine kleingeschnittenen Hasenhaare und Eiweiß zur Hand zu haben, um die Blutung zu stillen. Stattdessen goss er die Wunden mit warmem Öl aus.«

Mary riss die Augen wieder auf und starrte auf Franklins weißen Hintern. »Das darf nicht wahr sein!«

»Oh, doch. Wir diskutierten alles, wirklich alles. Ja, wir standen vor den Patienten und diskutierten den Sinn oder Unsinn von Wundnähten und Wein zum Kühlen und Reinigen. Es war unfassbar. Wir haben im Urschleim der Medizingeschichte angefangen.«

Franklin machte eine Schüttelbewegung und tauchte die Hände in die Schüssel. Er schöpfte Wasser und spritzte es sich über den Leib, bis eine Gänsehaut seinen Rücken bedeckte.

»Und der Grog, der ist überhaupt das beste Heilmittel, das wir haben. Neunzig Prozent aller Leiden bekommen wir damit kuriert. Arzt bin ich nicht, wahrhaftig nicht. Aber ertragen habe ich diesen Schwachsinn dennoch kaum. Der Kleine, wie heißt er? Na, der Sohn vom Bennetter, der hat’s richtig gemacht. Irgendwann drehe ich mich um, und er war weg, hatte das Weite gesucht. Ich kann’s sogar verstehen. Ich werde mir die Naht heute noch einmal anschauen, aber ohne unseren Doc.«

Die Haut wurde rot, so heftig rieb Franklin sie mit dem Leintuch trocken. »Weiß der Himmel, wer den für diese Reise vorgeschlagen hat. Der Mann ist gefährlich.« Er stieß gegen die Waschschüssel, und das Wasser ergoss sich über seine Hose. Franklin wischte beiläufig mit der Hand über den nassen Stoff und fluchte weiter: »Sauberkeit ist das oberste Gebot. Sie ist in den kommenden Tagen entscheidend. Wir können von Glück sprechen, dass der Kapitän in den letzten Tagen das Mannschaftsdeck hat ausschwefeln und mit Weinessig säubern lassen. Das alles nützt uns in dieser Situation mehr als der anwesende Arzt. Und wenn wir endlich San Jago erreichen würden, könnte die Mannschaft an Land gehen, um sich zu erholen.«

San Jago. Ein Kribbeln durchlief Mary. Windstille hatte die geringe Strecke von Madeira zu den Kapverdischen Inseln in die Länge gezogen. Der Gedanke, dass der Kapitän der Mannschaft voraussichtlich einen Landgang gestatten würde, weckte ihre Lebensgeister. Gleich würde Franklin die Kajüte verlassen, sicherlich würde er Carl aufsuchen und die Vorgänge der Nacht mit ihm besprechen. Vielleicht hatte ihre Arbeit Carl zugesagt, vielleicht würde er sie nun auf eine Exkursion mitnehmen?

Der Gedanke, ihm beim Frühstück in der Offiziersmesse zu begegnen, versetzte sie in Hochstimmung.

Sie lächelte überrascht.

»Vielleicht kann man es so einrichten, dass Doc Havenport die leichteren Patienten auf der Reise behandelt«, sagte sie.

Franklin schob seine Locken in ein Zopfband. »Ja, und wie soll man das begründen?«

»In der Herstellung von Salben, Tinkturen und Tabletten ist er wohl ein Fachmann. Soviel ich weiß, sticht er sogar seine Tabletten noch selbst. Das heißt, dass er damit einen enormen Aufwand hat, und deshalb benötigt er an anderer Stelle Entlastung.«

»Keine schlechte Idee. Ich bin dann bei Carl, mal sehen, wie er die Situation beurteilt.«

Die Tür schlug zu.

Mary setzte sich auf. Franklins Kiste stand offen, das Handtuch lag zerknüllt auf seiner Koje, und der Boden war mit kleinen Wasserlachen überzogen. Sie schob sich aus der Koje und öffnete ihren Seesack.

Just in diesem Moment riss Franklin die Tür auf und stürmte, wie es seine Art war, in die Enge der Kajüte hinein.

Mary schaute nur kurz auf und zog ein frisches Hemd hervor. Das würde sie sich heute gönnen: ein frisches Hemd.

Sie stutzte.

Franklin stand hinter ihr und schwieg.

Erstaunt blickte sie ihn an. »Was fehlt dir? Was hast du vergessen?«

»Meine Weste«, sagte er. Seine Stimme war tonlos. Die linke Augenbraue ragte steil in die Höhe, ein Spitzbogen unter rotblonden Locken.

Mary fröstelte.

»Was ist das?« Er schob das Kinn vor und reckte es in ihre Richtung.

»Was meinst du?«, fragte Mary und drehte sich zu ihm um.