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Mary sog die Luft ein, die ihr herb und fast sandig erschien. Konnte man Sand riechen? Sie hätte schwören können, ihn sogar zu schmecken, eine Wohltat nach den Wochen auf See, in denen die Luft nie aus mehr als Nässe und Salz bestanden hatte. Das Messing der Reling unter ihren Armen, lehnte sie sich vor, und der Wind zupfte ihr die Strähnen aus der Stirn.

Was hatte Peacock gesagt? Die Herren speisten beim Commandanten. Würde man sie hier zurücklassen, um sie mit dem nächsten Schiff nach England zurückzubringen? Sie sah sich erneut auf dem Deck um. Die Wachen, die vereinzelt postiert waren, lungerten herum und nahmen keine Notiz von ihr. Sie musste die Gelegenheit beim Schopfe packen und wenigstens einmal fremdes Land betreten.

Schnell lief sie in die Kajüte und packte Botanisiertrommel, Messer, Pinzetten, Glasphiolen, Stoffbeutelchen und das kleinste Schmetterlingsnetz ein. Ihre erste Auslandsexpedition konnte beginnen.

Der Fußweg nach Porto-Praya schlängelte sich steil zwischen den Felsen hinauf. Immer wieder wandte sie sich um, doch niemand nahm Notiz von ihr, niemand folgte ihr.

Warum ließ man sie unbewacht von Bord gehen?

Hatte Franklin vielleicht noch kein Wort über ihre Enttarnung verloren? Aber was bezweckte er damit? Wollte er, dass sie sich absetzte und ihnen die Scham der kommenden Ereignisse ersparte?

War es denn denkbar, auf der Insel unterzutauchen?

Auf ihrer Wanderung sah Mary sich genau um. Der überwiegende Teil der Bevölkerung war arm. Bitterarm. Die Männer trugen verschlissene Camisole, die Frauen waren in baumwollenes Zeug gehüllt, das von den Schultern bis zu den Knien herabhing. Die Kinder liefen bis zum mannbaren Alter nackt in der Hitze herum. Ebenholzfarbene Haut, so dunkel, wie Mary sie noch nie gesehen hatte. Nachtschwarze Augen, die zu Boden schauten, und weiche Lippen, die geschlossen blieben, wenn Fremde ihnen Befehle erteilten.

Ob die Sklaverei auf dieser Insel jemals abgeschafft worden war, vermochte Mary nicht zu beurteilen. Die Inselbewohner lebten so elendig, dass es auch keinen Unterschied machte. Sicherlich würde man jeden von ihnen halbtot prügeln, den man überführte, eine weiße Frau zu verbergen. Offenbar hatte sich nicht viel geändert, seit ihr Vater hiergewesen war. Schon einst ging alles, was auf diesem kargen Eiland erwirtschaftet wurde, an den Gouverneur und seine Commandanten, an die Kirchenmänner, die es hier zuhauf gab, oder an die Agenten der Handelsgesellschaften. Darauf, sich an einen dieser Männer zu wenden, brauchte sie keinen Gedanken zu verschwenden. Jeder würde sofort erfassen, dass sie, eine junge Frau aus England, in Schwierigkeiten steckte, sobald sie um Unterkunft bat.

Franklin wird wissen, dass es auf dieser verfluchten Insel für mich kein Entkommen gibt. Was bezweckt er mit seinem Schweigen?

Mary zog die Schuhe aus und genoss die Hitze der Felsen, den Sand zwischen den Zehen, den Druck der Steine, die ihre Fußsohlen massierten. Ihr Kopf fühlte sich leicht und leer an. Sie lief und lief und lief. Und wenn sie innehielt, dann nur, um Steine und Pflanzen aufzulesen. Jedes Fundstück eine Erinnerung an ihre Reise.

Von einem der Hänge konnte sie den Dorfbrunnen erkennen. Männer der Mannschaft umstanden ihn oder saßen im Schatten der Bäume. Augenblicklich machte Mary einen großen Bogen, der sie querfeldein an den Zuckerrohrplantagen entlangführte.

Vor einem Orangenbaum blieb sie stehen und musterte die Früchte, die grünlich gelb in den Zweigen hingen.

Eine Frau mit ebenholzfarbener Haut trat zwischen den Büschen hervor und sprach sie an. Und obwohl sie begriff, dass Mary keines ihrer Worte verstand, zerrte die Fremde sie mit sich unter den Baum und zeigte in die Krone hinauf.

Vereinzelt waren reife Orangen auszumachen, doch Mary schüttelte den Kopf. Sie spürte die Schwere in ihren Gliedern, die von der Aufregung des Tages herrührte. Nein, sie würde dort nicht hinaufklettern.

Die Frau gab ihr einen Klaps auf die Schulter, griff in die Zweige und zog sich in die Höhe. Auf einem festen Ast blieb sie stehen und ließ ihre Hand in den dunkelgrünen Blättern verschwinden. Als die Hand wieder auftauchte, hielt sie eine pralle Frucht, die sie fallen ließ. Mary fing sie auf und strich über die glatte Schale. Die Frau sprang herunter, landete neben ihr und langte nach der Orange. Ihre schwarzen Finger mit den hellen Nägeln gruben sich in die Schale, dass der Saft herausspritzte. Ehe Mary sich’s versah, hatte die Frau ein Stück gelbes Fruchtfleisch herausgetrennt und hielt es ihr entgegen.

Citrus aurantium sinensis. Der Apfel der Chinesen.

Mary fühlte die Feuchtigkeit der Frucht, atmete den Geruch ein. Speichel schoss ihr in den Mund, im Gedanken daran, die vielbeschworene Süße zu schmecken. Porridge, Dörrfleisch, Zwieback, Sauerkraut. Woche um Woche. Und nun der überwältigende Duft dieser Frucht.

Ihr Zögern schien die Fremde zu belustigen. Sie lachte. Weiße Zähne glänzten auf, und mit der Hand deutete sie an, Mary solle die Frucht verspeisen.

Die Augen geschlossen, biss sie zu. Das Fruchtfleisch war nass und süß, die glatten Fasern zerfielen auf der gierenden Zunge. Ein Fest für den Gaumen.

Mary öffnete die Augen.

Ein zufriedener Ausdruck huschte über das Gesicht der Frau, die ihr die halbgeöffnete Frucht in die Hand legte und zu einer Hütte, die hinter dem Buschwerk zu erahnen war, verschwand.

Am Strand knirschten die schwarzgrauen Steine unter jedem Schritt. Im Schatten einer Palme ließ Mary sich nieder, lehnte sich gegen den Stamm und beobachtete die Sailing Queen. Sie schaukelte mit den Wellen auf und ab. Immer wieder wurde die Pinasse zwischen Strand und Schiff hin und her gerudert, um Mitglieder der Mannschaft an Land oder zurück an Bord zu bringen. In diesem Moment bestiegen zwei Matrosen das kleine Beiboot. Sie trugen einen Beutel bei sich, den sie nur mit Mühe bändigen konnten. Der derbe Stoff beulte sich, ruckte mal hier, zuckte mal dort.

Was die Männer da wohl anschleppen, fragte sie sich kurz und sah Franklin vor ihrem inneren Auge auftauchen. Er hatte sie angeschleppt, ohne zu ahnen, was er sich zur Beute gemacht hatte.

Den warmen Sand des afrikanischen Bodens hatte sie unter ihren Füßen gespürt, die Süße der frisch gepflückten Orange geschmeckt, den Geruch des Unbekannten in sich aufgenommen und die Botanisiertrommel gefüllt.

Sie war bereit.

Am Abend würde sie an Bord zurückgehen und sich in das Unvermeidliche fügen.

Ein wenig abseits saß Kyle Bennetter. Er sah nicht auf, sein Interesse galt seinen Söhnen. Im schwindenden Tageslicht zeigte der Vater den Jungen Seeknoten, die sie eifrig mit ihren Tauen nachbanden. Selbst aus der Entfernung konnte Mary erkennen, dass Nat, der dicht beim Vater saß, Rücksicht auf den Bruder nahm. Erst wenn der Kleine den Knoten gebunden hatte, präsentierte er auch den seinen. So hielten die Jungen dem Vater zeitgleich ihre Arbeiten hin, und Bennetter lächelte. Zufrieden sah er aus, als er über die flachsgoldenen Haarschöpfe strich.

Nat sprang auf, als ein Vogel über das Wasser flog. Er ergriff einen Stein, doch als er zum Zielen ansetzte, war der Vogel über seinen Kopf hinweggeschossen und verschwunden. Den Wurf flach angesetzt, ließ Nat den Stein zwei-, dreimal über die Oberfläche des Wassers springen, erst dann versank er in der Tiefe.