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Ich werde sterben!

Plötzlich flogen das Schiff und die grölende Meute an ihm vorbei. In einem Zug wurde er in die Höhe gerissen und sofort wieder in die Tiefe geschickt. Als er das dritte Mal im Wasser verschwand, wusste er, dass er es überleben würde.

An Bord streckten sie ihm die Arme entgegen, klopften auf seine Schultern und hielten ihm trockene Wäsche hin. Vor aller Augen musste er seine Kleider wechseln. Ich hasse sie, ich hasse sie alle, dachte er und nahm dann den Krug mit Bier, den Nat ihm reichte.

Tahiti, 24. September 1785

Manchmal schämte er sich. Owahiri öffnete die Faust und schaute auf die graue Figur, die in seiner Hand lag.

»Das sind Zinnfiguren«, hatte Omai damals gesagt und eine Kiste geöffnet. In ihr hatten diese Figuren gelegen, klein und glänzend, fast kniehoch gestapelt. »In England spielen die Kinder damit. Wenn du möchtest, nimm dir eine.«

Lange hatte Owahiri gesucht, bis er sich entschieden hatte.

»Das ist ein Reiter.« Omai hatte ihm den Namen des Tieres genannt, auf dem der Mann saß. Doch an das Wort konnte Owahiri sich längst nicht mehr erinnern. In seinen Augen ähnelte das Tier einem Hund, einem etwas groß geratenen Hund.

Es war ein unvergesslicher Besuch bei Omai gewesen. Erst am Abend zuvor hatte er Tupaia die Geschichte erzählt. Dass Omai und er miteinander gespielt hatten, bis es wieder einen Krieg gegeben hatte, und dass die Familie seines Freundes nach Huahine hatte fliehen müssen. Sein Sohn folgte seinen Worten kaum. Müde rieb er sich die Augen, bis der Vater das Schiff erwähnte. Das Schiff, mit dem die Fremden mit der weißen Haut nach Tahiti kamen.

»Ihre Haut ist wirklich weiß wie Kokosnussfleisch?«, warf Tupaia ein. Jetzt war er wach und zappelig.

»Ja, das ist sie, und viele der Fremden haben helle Augen. Blau wie das Meer oder grau. Grün gibt es auch und hellbraun, das sieht ungewöhnlich aus, sage ich dir.«

»Und dann, was passierte dann?«

»Die Fremden nahmen Omai, er war damals ein junger Mann, auf ihre Insel, nach England, mit. Diese Insel ist weit entfernt, bis dorthin ist es eine Reise, die viele Monde währt. Ich hörte, dass er aufgebrochen war, ans andere Ende der Welt, und war mir sicher, er würde nie zurückkommen. Aber sie brachten ihn wieder zurück. Hier auf Tahiti sind wir uns, inzwischen erwachsene Männer, wieder in die Arme gefallen. Und dann habe ich ihn begleitet. Er wollte gern nach Huahine. Dort fühlte er sich inzwischen wohler.«

»Du bist mit Omai nach Huahine gefahren? Auf dem großen Schiff?«

Owahiri nickte.

»Stimmt es, dass ihre Schiffe aussehen, als hätten sie Flügel? Weiße, große Flügel?«

»Ja, sie haben weißen Stoff an Stämme gehängt, und der Wind bläht diese Stoffe auf. Das sieht ein wenig so aus wie die Flügel eines weißen Vogels. Vieles an ihnen ist anders als bei uns, nicht nur ihre Schiffe sehen anders aus. In Huahine habe ich gesehen, wie die Fremden Omai eine Hütte gebaut haben, aus Holz, mit geschlossenen Wänden.«

Tupaia riss seine Augen auf. Sein Mund formte ein leises »Ohhhh!«.

»Die Luft war schlecht darin. Sie kann sich nicht bewegen, und wenn die Sonne auf das Dach fällt, wird es auch noch heiß in dieser Hütte.«

Die kleine Stirn kräuselte sich. Enttäuschung zeigte sich auf dem Gesicht seines Sohnes. »So etwas Dummes«, sagte er. »Wie kann man denn solche Hütten bauen?«

»Sie haben viele merkwürdige Gewohnheiten und Gegenstände. Omai hatte etliche dieser seltsamen Gegenstände aus England mitgebracht, die ich dir nicht recht erklären kann. Eine Kaffeemühle. Ein lustiges Wort, oder? Wozu man sie verwendet, habe ich nicht verstanden. Und Musikinstrumente hatte er dabei, sie nannten sich Geige und Flöte. Eine Flöte bläst man mit dem Mund.«

Tupaias Lachen steckte ihn an. Gemeinsam lachten sie über die Vorstellung, eine Flöte mit dem Mund anstatt mit der Nase zu spielen.

»Er hatte auch Gläser dabei. Sie sind wie unsere Kokosnussschalen, man kann daraus trinken. Sie waren hübsch, man konnte sehen, was man eingoss. Aber sie gingen so schnell kaputt. Und wenn man dann die Reste wegwerfen wollte, konnte man sich die Haut damit blutig schneiden. Und es gab weiße, flache Platten, auf die legen die Fremden das Essen. Auch das war hübsch, aber diese Platten gingen ebenfalls schnell zu Bruch. Omai nutzte bald wieder die guten Bananenblätter.«

Bis in die tiefe Nacht hinein erzählte er Tupaia alles: Wie er mit Omai die Sprache der Fremden geübt hatte und wie er wieder nach Hause zurückgekehrt war.

Der Abend hatte alles wieder aufgewühlt.

Omai hatte er nach seinem Besuch auf Huahine nie wiedergesehen. Nur Erzählungen waren immer wieder bis nach Tahiti vorgedrungen, die einander ähnelten. Nachdem die Mitbringsel verschenkt waren, so sagte man, hatte der Freund die hölzerne Hütte irgendwann verlassen.

Zum Abschied hatte Owahiri ihn gewarnt, er solle nicht alleine weiterleben, sonst würde der Totengeist ihn sich eines Nachts holen kommen. Es war also durchaus denkbar, dass Omai, vereinsamt in seiner Hütte, dem Totengeist zum Opfer gefallen war. So genau konnte das niemand sagen.

Owahiri öffnete noch einmal die Hand. Der Reiter. Alles hatte er Tupaia erzählt, nur den Reiter, den hatte er nicht erwähnt. Nicht einmal Revanui wusste von ihm. Wieder breitete sich das Gefühl der Scham in ihm aus.

»Das ist merkwürdig bei den Menschen in England«, erklang noch einmal die Stimme des Freundes in seinem Kopf. »Sie hüten ihre Sachen. Sie hüten einfach alles. Und sie geben sie nicht mehr her. Nur sehr ungern, und wenn sie doch etwas hergeben, möchten sie etwas anderes dafür haben. So wie sie das hier auch gemacht haben.« Omai und er hatten damals beide einen Moment geschwiegen. Sie waren sich einig gewesen: Tiere konnte man hüten, aber nicht Sachen.

Viel Zeit war seitdem vergangen. Und seit jenem Abend hatte er den Zinnsoldaten über die Monde hinweg gehütet.

Rio de Janeiro, 5. Oktober 1785

Es war kein Gebrüll, es war mehr ein Aufheulen gewesen. Und auch in Carl hatte etwas aufgeheult, freudig, fast fiebrig, und ihn nach draußen an die Reling gedrängt, kaum dass der Ruf »Land in Sicht« erklungen war. Leicht war von diesem Moment an alles geworden. Selbst die letzte Faser seines Leibes hatte Reserven freigesetzt, die in den vergangenen Wochen verborgen geblieben waren. Die Arbeit hatte sich von nun an beinah spielerisch erledigt, und der Umgang der Mannschaft untereinander wurde ungezwungen, nahezu friedlich. Man hatte gescherzt, miteinander gesungen, und Lukas’ Dudelsack ertönte ohne Unterlass.

Sechs Tage waren sie seit jenem Ausruf auf südlichem Kurs parallel an Südamerikas Küste entlanggefahren, mit dem Wissen, dass Rio de Janeiro nur einen Steinwurf entfernt lag. Hier konnte Holz geschlagen, frisches Wasser und Gemüse aufgefüllt werden. Mit ein wenig Glück würden sie auch wieder lebende Tiere an Bord nehmen können und so dem Dörrfleisch für ein paar Tage eine willkommene Abwechslung entgegensetzen.

Seit sechs Tagen hielt auch Carl immer wieder Ausschau nach Rio de Janeiro, und bisher hatte er sich nicht sattsehen können. Grandiose Landschaften erstreckten sich vor ihnen: steinige Hügel, zerklüftete Felsen, grüne Täler und liebliche Buchten. Nichts, was es woanders auf der Welt nicht auch gab, und doch schön wie nie. Seine verödeten Sinne berauschten sich immer aufs Neue am Ausblick und am Wind, der vom Land kam und den Geruch feuchter Erde vor sich hertrieb.

Am zweiten Tag war ein erstes kleines Fischerboot auf den Dreimaster zugekommen und hatte seine Ware feilgeboten. Als hätten alle Fischer der Küste den Verkauf beobachtet, paddelten nun beständig kleinere und größere Boote der Sailing Queen entgegen und priesen frischen Fisch an. Einer der Männer hatte zu Carls Erheiterung das spanische Silbergeld ausgeschlagen und nach englischen Münzen verlangt. Er hatte erhalten, wonach er verlangte, und im Gegenzug besonders gute Fische ausgewählt.