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Er hat recht, dachte sie. Es ist die falsche Formulierung: Es gibt kein »wir« mehr. Sie schluckte gegen den Druck in ihrer Kehle an, und ihr Blick hielt sich an Landon fest, der zwei Schritte weitergegangen war und mit der rechten Hand über das dunkle Holz der Kommoden strich. Mary öffnete eine der Schubladen. Der unverwechselbare Duft getrockneter Pflanzen stieg auf. »Das ist das Herbarium«, sagte sie und hörte den weichen Klang ihrer Stimme. »Die einzelnen Bögen, auf denen man gepresste Pflanzen aufbewahrt und sie nach ihren Familien und Herkunftsorten sortiert, nennt man Belege. Hier unten in der Ecke notieren wir stets den Fundort, das Funddatum und den Sammler. Ob Schmetterlinge oder Pflanzen – dahinter steht der gleiche Gedanke: Diese Sammlungen sind Dokumentations- und Vergleichsinstrumente. Sie sind die Grundlage unserer Arbeit.«

»Was seid Ihr für eine Frau«, lachte Landon auf. »Ein Leben an Eurer Seite wäre sicher kurzweilig.«

Jetzt waren sie angekommen, jetzt war er beim Thema. Deshalb war er hier erschienen. Mary schätzte ihn, seine umfassende Bildung und die überlegten Worte. Sie hatte seine Blicke am Tisch bemerkt und erahnte die Gefühle, die er offensichtlich für sie hegte. Gefühle, die sie nicht erwidern konnte. Die sie nicht kannte. Flugs zeigte sie auf das Kuriositätenregal und stellte die Öllampe so, dass das, was zuvor im Dunkeln gelegen hatte, ins Licht gerückt wurde. Ohne nachzudenken, senkte sie die Stimme: »Das sind Mitbringsel meines Vaters. Er hat sie von den Ausflügen in die Umgebung, von den Reisen durch Europa und der ersten Forschungsfahrt, die er als Arzt und Sammler begleitet hat, mitgebracht.«

»Darf ich sie berühren?«, fragte Landon. Kaum, dass Mary genickt hatte, ließ er die Finger über die poröse Oberfläche der feuerroten Korallen gleiten. In tönernen Schalen lagen Muscheln. Er hob sie an und ließ das silbrige Perlmutt im Licht schimmern. Mattgraue Schneckenhäuser verbargen ihre Schönheit dem ersten Blick.

Mary nahm eines heraus. Drehte es um. Nun konnte er den warmen Ton der lachsfarbenen Innenwände sehen. Einige der Gehäuse waren faustgroß und schwarz-weiß gemustert, andere fingerdick in die Länge gedreht, mit zinnoberfarbenen Flecken versehen.

Für jedes Sammlungsstück nahm Landon sich Zeit, jedes hob er an, befühlte die Oberflächen und stellte es wieder an seinen Platz. Im obersten Regalfach thronte ein menschlicher Schädel neben fremdartigen Holzwaffen mit aufwendigen Schnitzereien.

Mary zog den Schemel heran, ließ sich nieder und sah zu, wie Landon die silbernen Pokale und hölzernen Trinkgefäße berührte und sich über Zeichnungen weit entfernter Länder beugte.

»Es ist schön, wirklich schön.«

»Ja, das finde ich auch. Der ganze Raum ist gefüllt mit Erinnerungen. Und wirklich zu allem wusste mein Vater Lehrreiches zu berichten.«

Landon zog eine Teakschatulle hervor. »Was ist das? Welche Geschichte erzählt dieses Holzkistchen?«

Sie nahm die Schatulle und öffnete den Deckel. Der Schmetterling. Vaters Schmetterling.

»Es ist eine lange Geschichte, die mein Vater mir nach seiner Weltreise erzählte. Er konnte weit ausholen.«

»Bitte nehmt Euch die Zeit.«

Mary betrachtete die Flügel des Schmetterlings. Schwarze Spitzen, die ein orangefarbener Farbstreifen vom samtigen Blau der schmaler zulaufenden Enden trennte.

»Ich weiß nicht mehr, auf welcher Insel sich die Geschichte mit dem Schmetterling zutrug. Aber irgendwo unterwegs tauschte einer der Seesoldaten sein Halstuch gegen einen Blattschmetterling. Diesen hier. Es gibt farbenprächtigere Falter, werdet Ihr denken, doch das Faszinierende sind die schlammig-braunen Unterseiten der Flügel.«

Mary hob die Glasplatte, auf der der Schmetterling befestigt war, an einer kleinen Schlaufe in die Höhe und drehte sie um.

»Wenn der Schmetterling die Flügel schließt, gleicht er einem vertrockneten Blatt. Perfekt in seiner Nachahmung und Anpassung. Mein Vater bat den Seesoldaten, das Stück für die Sammlung herzugeben. Doch der Kerl schlug vor, dass mein Vater ihm für einen Monat seine Rum-Ration abtreten solle. Das war ein unverschämter Preis, und so lehnte mein Vater ab. Stattdessen versuchte er, den Eingeborenen klarzumachen, dass sie ihm ein solches Prachtexemplar besorgen sollten. Sie brachten kleinere Falter dieser Art und andere Insekten, und er gab die Hoffnung auf, jemals einen zu erstehen.

Das Schiff blieb für einige Tage in der Bucht vor Anker, und ein lebhafter Handel entstand. Die Wilden kamen an Bord. Alles wollten sie sehen, alles wollten sie anfassen und ausprobieren. Die Seeleute und Wissenschaftler besichtigten wiederum die Insel, nicht weniger neugierig. Und eines Morgens hörte man den Seesoldaten fluchen, sein Kleinod sei ihm gestohlen worden. Wenig später kamen wieder Eingeborene mit ihren Kanus an das Schiff herangefahren. Sie brachten neue Handelsware, und dort lag – eben jener Blattschmetterling. Meinem Vater liefen die Tränen über die Wangen, so musste er lachen. Diese Burschen der Insel boten der Mannschaft allerlei Gegenstände, die bereits getauscht worden waren, erneut an. Sie hatten sie an Bord entwendet.

Der Seesoldat hatte inzwischen alles, was er besaß, getauscht. Vor seinen Augen erwarb mein Vater nun den Falter und übergab ihn dem Mann. Der bekam einen hochroten Kopf, doch mein Vater bestand darauf, dass er den Schmetterling wieder an sich nehmen solle. Schließlich, so meinte er, sei dieses Kleinod unrechtmäßig in seinen Besitz gelangt.

Abends stießen die beiden Männer gemeinsam an. Jeder mit seiner Rum-Ration. Dem Seesoldaten war die Geschichte derart arg, dass er den Schmetterling letztlich spendete und nun meinem Vater als Ausgleich für den geleisteten Tauschwert seine Rum-Ration anbot. Zwar nur für drei Tage, aber es ist ja auch der Wille, der zählt.«

Mary schwieg. Sie sah ihren Vater, der sie, den Kopf zur Seite geneigt, anschaute, um sich dann zum Tisch vorzubeugen und die Pfeife auszuklopfen.

»Stets fragte mein Vater, was seine Geschichte lehre. Es war albern, aber er mochte dieses Spiel. Und diese sollte mich lehren, offenen Herzens durch die Welt zu gehen. Denn jede Hinterlist und jede Anmaßung, sagte er, die ich beginge, würde irgendwann auf mich zurückfallen. Stets beschwor er mich, ehrlich und bescheiden zu bleiben. Er war ein Idealist.«

»Ihr seid ganz seine Tochter«, sagte Landon, griff nach ihren Händen und umschloss sie. Glatt fühlte seine Haut sich an. »Ihr seid so sanft. So klug. Wie lange wollt Ihr mich noch warten lassen?«

Mary schloss die Augen. Ich muss ehrlich zu ihm sein. Eben habe ich darüber gesprochen.

»Ich möchte Euch nicht warten lassen, es ist mir unmöglich. Noch fühle ich mich nicht reif für den Bund des Lebens«, flüsterte sie und sah das Zucken seiner Mundwinkel. Sah, dass die weichen Gesichtszüge sich anspannten.

»Ihr seid neunzehn Jahre alt, im besten Alter für die Ehe. Das findet auch Eure Tante. Bitte, erlaubt mir, Euch zu helfen, erlaubt mir …« Er zögerte.

Mary hob die Brauen. Was sollten die großen Worte? »Habt Dank für Eure Fürsorge, aber ich weiß mir sehr wohl selbst zu helfen.« Sie fühlte, dass es besser war, nicht genauer auf seine Gründe einzugehen. Nichts wollte sie aufrühren, nichts aufbauschen.

»Ihr wisst nichts! Gar nichts!«, stieß Landon plötzlich hervor.

Seine Erwiderung war derart heftig, dass Mary zurückwich. Wie lange war er schon hier? Wie lange ließ sie schon zu, dass sie die Grenzen des Anstands überschritten? Das konnte nicht gutgehen, er musste sich ja Hoffnungen machen. Sie wollte ihm keinen Schmerz zufügen, doch er war schon wie im Fieber, lief wie ein gehetztes Tier vor ihr auf und ab. Er musste gehen. Sofort.

Die Augen geschlossen, presste er die Finger auf die Nasenwurzel. Als er sich an sie wandte, wirkte er kraftlos. »Im Vertrauen, Eure Tante gestand mir, dass sie auf ihr Anwesen zurückkehren will. Sie wird den Hausstand in Kürze auflösen und …«