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»Ihr wisst, dass ich Euch sehr schätze, aber ich will das nicht glauben. Das kann nicht sein.« Immer wieder hatte Landon sich in letzter Zeit der Vorstellung hingegeben, Mary könne nach Bath gefahren sein, um dort in Begleitung einer Freundin ein wenig Zerstreuung auf langen Spaziergängen, beim Besuch von Konzerten, Ausstellungen und Theatervorstellungen zu suchen. Geendet hatte sein Tagtraum ein ums andere Mal damit, dass sie erholt und aufgeräumter Stimmung zurückkehrte. Jeder andere Gedanke schien unerträglich zu sein. »Woher wollt Ihr die Gewissheit nehmen, dass es sich nicht um ein Verbrechen handelt? Ihr habt vergrabene Kleidung und Haare gefunden.«

William ließ sich nicht beirren. »Die gesamte verbliebene Reisegarderobe von Mr. Linley blieb bei der Haushaltsauflösung unauffindbar, auch der alte Seesack war nicht mehr an seinem Platz. Es gab keine Einbruchspuren, und es fehlten nur die Reiseutensilien. Ich habe alles genauestens überprüft.«

Landon schwieg. Was ist, wenn er recht hat? Dann ist das besser als nichts, dann wissen wir, dass sie lebt.

»Aber warum ist ihr Kleid zerschnitten?«

Der alte Mann zuckte die Schultern. »Spekulationen kann ich bieten, mehr nicht.« Gedankenverloren zupfte er Erdklümpchen vom Stoff, die er in den Beutel fallen ließ. »Was machen wir nun? Können wir eine Nachricht senden? Besteht irgendeine Möglichkeit, das Schiff noch einzuholen, irgendwen zu informieren?«

»Schon der Gedanke«, Landon schüttelte den Kopf, während er die Worte abwog, »dass Mary als Frau dem Schiff hinterherreist, um nachträglich an Bord zu gehen, ist unglaublich. Doch der Gedanke, dass sie auch noch als Mann an Bord gegangen sein könnte, ist ungeheuerlich. Niemand wird uns glauben, und wenn diese Annahme sich tatsächlich als wahr erweist, wird ein Skandal das Haus des ehrwürdigen Francis Linley erschüttern, wie ihn Plymouth lange nicht erlebt hat.«

Den Rücken gewölbt, klaubte William weiterhin stoisch Erdklümpchen aus dem Kleid. »Wir werden nicht umhinkommen, es Mrs. Fincher mitzuteilen. Sollte Mary an Bord sein, ist es eine irrige Annahme, dass sie die Reise unentdeckt hinter sich bringt. Falls nicht noch schlimmere Dinge geschehen …«

»Und diese Aufgabe wird mir zufallen, nehme ich an?«

Der alte Mann hob den Blick nicht, aber er nickte. »Wenn der Verkauf des Hauses abgewickelt ist, und wir befinden uns in den letzten Zügen, werden die Köchin und ich in den Dienst von Mrs. Fincher treten. Vielleicht ließe es sich einrichten, dass Ihr wenige Tage später eintrefft?«

»Wann wird das sein?«

»Oh, ich denke, in der kommenden Woche.«

Landons Blick fiel auf die Unterlagen seines Schreibtischs. Sandkörner waren über die Papiere verstreut. Gleich würde er sich wieder mit der Anschaffung eines Ladekrans befassen können. Welch wunderbarer Vorgang. Kalkulierbar, überschaubar und emotionslos.

Atlantik, 21. November 1785

»Mary, bitte wach auf.«

Mary. Wie viele Wochen war es her, dass jemand sie beim Namen genannt hatte? Sie lächelte und zog die Decke über die Schultern, denn das Schiff war in dieser Nacht stark ausgekühlt. Doch dann fuhr sie abrupt in die Höhe und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren.

»Mary, bitte.«

Franklin! Es war Franklin, der sie beim Namen nannte. Nie hatte er sie mit ihrem Namen angesprochen. Und auch ihren falschen Namen hatte er seit der Enttarnung kaum noch verwendet, als wollte ihm das kleine Wort Marc nur schwerlich über die Lippen kommen. Nun rief er nach ihr und nannte sie Mary. Sie schluckte. »Franklin? Was ist? Geht es dir nicht gut?« Sie lauschte seinen Atemzügen. Hatte sie vielleicht geträumt?

»Hilf mir.«

Mit zitternden Fingern zündete sie die Öllampe an. Die Flamme warf Schatten, die unförmig durch den Raum schwankten.

Klein und kreidebleich erschien ihr Franklins Gesicht, groß jedoch seine glänzenden Augen. »Meine Hände und Füße sind erstarrt, ich kann sie nicht mehr bewegen«, flüsterte er.

Mary warf die Decke beiseite, sprang aus der Koje, beugte sich über ihn und befühlte seine Stirn. Nasse, kaltschweißige Haut. Der Körper bebte. »Ich hole Doc Havenport, bleib liegen.«

»Nein, nicht den Doc!«

»Franklin, wir brauchen Medikamente.« Sie nahm seine Hand. »Ich verspreche dir, ich werde deine Behandlung beaufsichtigen. Aber jetzt brauchen wir den Wirrkopf mit seinen Tiegeln und Pillen, ja?«

Die Locken wippten sacht.

Mary griff sich die Lampe.

Mit aller Kraft, die Hand zur Faust geballt, hämmerte sie gegen Doc Havenports Tür. Ich habe keine Zeit zu warten, bis unser weinseliger Schiffsarzt wach wird, dachte sie, betrat die Kajüte und stellte die Lampe auf dem Behandlungstisch ab. Heftig rüttelte sie an Doc Havenports Schulter. Seine Augenlider zitterten.

»Wir brauchen Euch, Mr. Myers liegt darnieder. Schnell, bitte kommt mit mir.«

Doc Havenport fasste sich an die Stirn und hielt die Augen geschlossen. »Nehmt doch bitte die lederne Tasche, und dann lasst uns gehen«, sagte er, rang nach Luft und schob sich aus der Koje. Seine Bewegungen wirkten mühsam, kaum, dass er stand, torkelte er zwei Schritte vorwärts.

Mary griff ihn um die Taille und setzte ihn wieder auf die Koje. Die nackte Haut seines Unterarmes war nass und kaltschweißig. Wie bei Franklin, er hat die gleichen Symptome. Bleib ruhig, ermahnte sie sich. Bleib ganz ruhig.

»Mir ist ein wenig schwindelig«, sagte Doc Havenport, sein Atem eine Mischung aus Fäulnis und Alkohol. »Verzeiht mir. Aber vielleicht kann Euch Sir Belham behilflich sein, ich befürchte, unpässlich zu sein.«

Mary half ihm, sich wieder hinzulegen, und deckte ihn zu. Kurz fühlte sie seine Stirn, doch der Befund änderte sich nicht.

»Meine Hände, sie schmerzen. Ich bekomme so schwer Luft.« Er hustete.

Beklommen wich Mary zurück, trat an den Tisch und goss ihm ein Glas Wasser ein.

Doc Havenport winkte ab. »Unter der Koje, schnell, schnell.«

Im Halbdunkel erkannte Mary eine geöffnete Flasche Madeirawein. Sie hielt sie dem Schiffsarzt hin, er langte danach und nahm gierig einige Schlucke.

»Das hilft! Das ist so gut wie starker Grog«, sagte er, als er absetzte. »Geht jetzt! Kümmert Euch nicht um mich, versorgt den anderen Patienten.«

Mary griff nach Tasche und Lampe. Rückwärts trat sie aus der Kajüte, den Blick auf Doc Havenport gerichtet, bis die Tür sich schloss. Sie rannte nicht, sie jagte zu Carls Kajüte. Sofort saß er aufrecht in seiner Koje, den Blick wach und klar, als hätte er auf ihr Eintreffen gewartet.

»Schnell, komm«, schrie sie. »Franklin, Doc Havenport – sie sind krank. Die Hände, die Füße, sie können sie kaum oder gar nicht bewegen. Doc Havenport atmet schwer.«

In baumwollener Wäsche lief Carl vor ihr her, den engen Kajütgang entlang. Als sie die Tür zur Kajüte aufstießen, war Franklins Koje leer.

»Dort.« Carl zeigte auf den Boden.

Franklin kniete vor der Koje. »Ich wollte aufstehen, nur kurz, für einen Schluck Wasser. Aber meine Beine wollten mich nicht tragen. Mir ist schwindelig.« Er versuchte, sich an der Seekiste hochzuziehen, doch es gelang ihm nicht, und so kroch er nur ein Stück weiter.

Carl packte ihn und half ihm auf sein Bett. »Was fehlt dir?«, fragte er.