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Peacock erhob sich und trat an den Smutje heran, der bebend vor dem Tisch stand. »Komm, Henry. Nimm meinen Stuhl. Setz dich«, sagte er sanft.

Henry fiel auf den Stuhl, sein Kopf sank auf den schmalen Brustkorb. Er begann, hemmungslos zu weinen.

Der Astronom griff in seine rechte Manteltasche, dann in die linke und zog ein Taschentuch hervor. Er reichte es Henry, der sich darin festkrallte.

»Also, du hast beim Fang der Fische darauf verwiesen, dass einer davon ein Kugelfisch sein könnte, ja?« Carl formulierte seine Frage behutsam. Den Mann mehr aufzuregen als bisher erschien ihm grausam.

Henry nickte erneut. »Es waren sogar zwei. Doc Havenport ging vorbei, und er sah, dass ich die Fische wieder ins Meer zurückwerfen wollte. Er befahl mir innezuhalten. Ich erklärte mich, und er musterte die Fische. Dann sagte er, ich müsse mir keine Gedanken machen. Nicht alle Kugelfische wären giftig. Und von dieser Art hätte er schon in Neu-Kaledonien gespeist. Ich habe ihm geglaubt.«

»Ja, auch er hat daran geglaubt. An sich ist es ja auch recht unwahrscheinlich, in dieser Region giftige Kugelfische anzutreffen«, erwiderte Carl.

Kapitän Taylor rang die Hände. »Meine Herren, die Lage ist ernst, denn man wird der Mannschaft nicht erklären können, dass ein tragisches Versehen den Tod zweier Männer verursacht hat. Angst und Aberglaube werden dazu führen, dass ein Sündenbock gesucht wird. Wenn die Männer dem Smutje das Essen verweigern, droht uns die Meuterei, darum möchte ich als Grund für das Ableben der beiden Männer eine Krankheit benennen. Es ist ausreichend, wenn der wahre Sachverhalt im Logbuch vermerkt und erst in England bekannt wird. Auf diesem Weg werden wir nur dem Aberglauben Rechnung tragen müssen, aber uns immerhin die Meuterei ersparen.«

Alle schwiegen. Carl und Peacock nickten.

»Gut, meine Herren. Dann erwarte ich von Sir Belham und Mr.  Middleton die Nennung einer Krankheit, und«, er machte eine Pause, bevor er weitersprach, »ich erwarte Ihr Schweigen.«

Mehrfach hatte Carl Segelmacher-John bei der Arbeit beobachtet. Stets hielt er den Kopf in die Höhe, gab eine seiner Geschichten zum Besten, und die Hände auf der hölzernen Bank schienen ein Eigenleben zu führen. Doch sobald sich Segelmacher-John erhob, wandelte sich das Bild. Suchend ertasteten seine Hände sich den Weg. Carl vermutete, dass sich Johns Sehvermögen auf der Fahrt noch einmal verschlechtert hatte, dass er wahrscheinlich gerade noch Licht von Schatten zu unterscheiden wusste. Und so verließ Segelmacher-John seine Bank so selten wie möglich, offensichtlich in der Hoffnung, dass man seine Unsicherheit nicht zur Kenntnis nahm.

Die Unsicherheit, von der jeder an Bord wusste.

Carl konnte sich nicht erinnern, den Segelmacher auch nur ein einziges Mal in den Masten erlebt zu haben. Immer schickte er einen der Toppsgasten und gab ihnen Anweisungen, die sie widerspruchslos befolgten. Niemand sprach darüber, aber die Besatzung schien sich einig, den Mann in dem Glauben zu lassen, man würde ihm sein Gebrechen nicht anmerken.

Mit einem weißen Leintuch über dem Arm betrat Segelmacher-John die Kajüte des Schiffsarztes. Er blieb in der Tür stehen und ließ seinen silbern-leeren Blick durch den winzigen Raum gleiten. Doch Carl wusste, dass er dabei mehr wahrgenommen hatte als viele Sehende.

Franklins kalten Körper, der auf dem Behandlungstisch ruhte.

Den Schiffsarzt, der zusammengerollt in seiner Koje lag.

Den schmächtigen Zeichner, der in der Ecke auf einem Stuhl kauerte und sacht mit dem Oberkörper hin- und herschwankte.

Und sicher hatte er auch Carls Hand bemerkt, die immer wieder eine von Franklins Locken glattstrich und spürte, wie sie sich aufrichtete, als wäre nichts geschehen.

»Ich habe Segeltuch Nr. 1, einen Stoff von hervorragender Qualität, mitgebracht, da ich nicht weiß, ob die Herrschaften Hängematten haben, in die sie eingenäht werden. Es ist das beste Tuch, das wir an Bord haben. Hierin werden wir sie auf ihre letzte Reise schicken.«

Er trat neben den Tisch, und Mary stand mühsam auf, aschfahl im Gesicht. Gemeinsam hoben die beiden Franklin an, um ihn in das Segeltuch zu legen. Kaum, dass Segelmacher-John das Tuch über ihm zusammenschlug, rannen Mary erste Tränen über die Wangen.

Eine Zwinge legte sich um Carls Brust und drückte ihm den Atem ab.

Stich um Stich wurde Franklin in das Segeltuch eingenäht. Mit jedem Stich verschwand ein Stück mehr von ihm aus ihrem Leben. Als sich Segelmacher-John Franklins Nase näherte, beugte er sich vor und strich ihm über die Wange. Leichen erkannte er einwandfrei. Der Stich durch die Nase, um sicherzugehen, dass derjenige, der in das Segeltuch eingenäht wurde, nicht mehr lebte, war nicht vonnöten.

Franklin war und blieb tot.

Kein Wunder wollte geschehen.

Es erschien Carl wie ein Hohn, dass heute die Sonne lachte, der Himmel hellblau leuchtete und das Meer gestrichen glatt vor ihnen lag. Salutschüsse donnerten über ihre Köpfe hinweg, und unter dem Beben jedes Schusses drohte ihm das Herz zu zerspringen. Doch es zersprang nicht. Sein Herz schlug weiter.

Die gesamte Mannschaft stand an Deck, als die beiden Männer zu Wasser gelassen wurden. Sie versanken und trieben noch einmal kurz zur Oberfläche auf, das Segeltuch bereits schwer vom Wasser. Dann glitten Franklin und Doc Havenport in ihren weißen Kokons in die Tiefe. Eine Weile waren es noch helle Schatten, die sich gegen das dunkle Blau abzeichneten, bis das Auge nicht mehr ausmachen konnte, ob es das Tuch war oder der Wunsch, den Stoff noch in der Tiefe schimmern zu sehen.

Carl zwang sich aufzuschauen. Wir, dachte er und fixierte die Frau an seiner Seite, wir werden die Lücken, die diese beiden Männer hinterlassen haben, schließen müssen. Ob du eine Ahnung hast, worauf du dich mit dieser Reise eingelassen hast?

***

Den ganzen Tag über hatte sie die Kajüte nicht betreten. Hatte ihre Zeit an Deck und in der Offiziersmesse zugebracht. Längst war die Nachtruhe ausgerufen worden, und die Stille hatte das Regiment an Bord übernommen. Das Feuer im Kamin war erloschen, hin und wieder war noch ein leises Knacken in der glimmenden Glut zu hören.

Die Arme gestreckt, erhob sich Mary, und jeder Muskel ihres Körpers erschien ihr verhärtet. Mit zögerlichen Schritten lief sie zur Kajüte.

Sie wusste nicht, welche der Männer Franklin ins Behandlungszimmer geschafft hatten. Es war offensichtlich, dass sie ihn lediglich aus der Koje gehoben und fortgetragen hatten. Decke und Laken waren zerwühlt, jede Falte von Franklins Körper in die Wäsche gezogen. Auf der Seemannskiste lag seine Kleidung vom Vortag. Mary sank neben der Tür auf den Boden, schlang die Arme um ihre Beine und rührte sich nicht.

Atlantik, 22. November 1785

Der Morgen graute, als sie erwachte. Die Lampe stand neben ihr und malte mit der Flamme unscharfe Schatten in den Raum. Es waren die Schmerzen, die sie geweckt hatten. Die Kälte und die sitzende Haltung hatten ihren Rücken versteift. Langsam erhob sie sich und stand unschlüssig in der Kajüte. Besah sich die Wäsche, dann das Bettzeug. Beugte sich vor und ordnete Franklins Laken, faltete die Decke und strich die Kanten, bis sie aussahen, als wären sie mit dem Maßband gezogen worden. Stück um Stück legte sie seine Kleidung zusammen, und mit jedem Handgriff, der den Stoff bewegte, konnte sie den Geruch wahrnehmen. Einen letzten Hauch von Franklin. Der Geruch ist immer das Letzte, was uns bleibt, dachte sie. Und wenn der Geruch verschwunden ist, können wir uns nur noch in unsere Erinnerungen flüchten.

In der Weste erspürten ihre Finger eine Innentasche auf Brusthöhe. Ohne nachzudenken, griff sie hinein und fühlte kühles Metall. Sie zog es hervor. Ein Medaillon. Silbern glänzte es im Licht. Mary ließ den mit Ornamenten verzierten Deckel aufspringen und erstarrte.