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Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte.

Das Bild einer jungen Frau.

Vielleicht der Mutter oder auch der Eltern.

Einer Schwester.

Ein Heiligenbild vielleicht.

Aber nicht das.

Die Tuschezeichnung zeigte Carl.

Eine Gänsehaut, die vom Rücken ausging, zog sich über ihre Arme und Beine. Hastig band sie ihren Seesack auf und schob das Medaillon unter die Wäsche. Jetzt verstehe ich dich, rief es in ihr. Jetzt begreife ich, was du damals gemeint hast, als ich dich fragte, warum du dich so für mich einsetzt, warum du mich nicht enttarnt hast. Jetzt erkenne ich den Grund, den du nicht benennen wolltest: Auch du warst falsch an Bord, auch dich hätte niemand hier geduldet, wenn man um dein Geheimnis gewusst hätte. Franklin, ich werde es hüten, so wie du meines gehütet hast. Sollten sie deine Habe an Bord verteilen oder sie verwahren, um sie nach der Rückkehr deiner Familie zu übergeben – niemand wird etwas erfahren. Das bleibt unser Geheimnis.

Dan war dabei, den Tisch einzudecken, als Mary die Offiziersmesse betrat. Bleich schimmerte sein Gesicht im fahlen Morgenlicht. Der Tod zweier Männer durch eine Krankheit, die niemand aus der Mannschaft kannte, hatte jeden schockiert.

Einen Augenblick später traf Carl ein und nahm Mary gegenüber Platz. Noch nie hatte sie ihn unrasiert und mit derart dunklen Augenringen gesehen. Er trug die Kleidung vom Vortag, in der er, dem Zustand nach zu urteilen, geschlafen hatte. Er goss sich Tee ein und nahm ein paar Schlucke.

Ob er weiß, welche Zuneigung Franklin für ihn gehegt hat, überlegte Mary, während sie den Blick über sein Gesicht wandern ließ. Sicher hat er nicht einen Gedanken daran verschwendet. Sein Hang zu wechselnden Liebschaften in der Londoner Damenwelt ist hinlänglich bekannt. Ich wette darauf, dass er nicht auf den Gedanken kam, dass sein Gehilfe anders empfinden könnte. Aber das werde ich wohl nie erfahren.

Carl schaute auf. Die Augen glänzten dunkel, die Lippen waren weich und wund. Sein Kehlkopf sprang bei jedem Schluck.

Schöner hatte er nie ausgesehen.

Feuerland, 6. Dezember 1785

»Zwischen Rio de Janeiro und Kap Hoorn liegen zweitausendfünfhundert Meilen.« Nats Wangen waren vom Wind gerötet, ein Rotztropfen hing an seiner Nasenspitze.

»Na und? Außerdem sind wir ja noch gar nicht da.« Seth starrte wieder auf das Wasser hinaus. Heute war es steingrau, formte mannshohe Wellen, die weiße Schaumkämme trugen und in Fontänen über Deck schlugen. Das Schiff krängte auf die Seite, und er spreizte die Beine, um die Schwankung auszugleichen. Wenigstens bin ich nicht wieder seekrank geworden, dachte er kurz, derweil Sir Belham an ihm vorbeiwankte und sich über die Reling erbrach.

Nat wischte mit dem Ärmel der Jacke über seine Nase. »Ja, aber bald erreichen wir Kap Hoorn, und zweitausendfünfhundert Meilen, das ist eine weite Strecke«, sagte er eindringlich und zog die Augenbrauen zusammen.

Ja, zweitausendfünfhundert Meilen Langeweile, ergänzte Seth in Gedanken. Morgens das Deck aufwischen, bis die Sonne aufgeht, donnerstags und sonntags wird’s gescheuert. Dann das Mannschaftsdeck fegen, Dienstag und Freitag wischen. Frühstück, Wache schieben, am Montag Wäsche waschen. Mittags Grog und Essen, am Nachmittag entweder Drill oder Wachschicht. Fünf Uhr Abendbrot und Grog, vielleicht Freiwache. Um acht Uhr Licht aus und schlafen, bis die nächste Wachschicht ansteht. In jedem Fall um vier Uhr wieder antreten zum Reinschiffmachen. Zweitausendfünfhundert Meilen die gleiche Plackerei. Und die Stunden, die ich bei Marc verbringen kann, sind viel zu selten. Der Geruch der Tinte, das Rascheln des Papiers und die wohlige Wärme in der Offiziersmesse.

Seth hob die Hände vor den Mund, formte eine Muschel und hauchte hinein. Aber weder seine Hände noch sein Gesicht wurden wärmer. Eine Freiwache in dieser Kälte ließ sich in der dünnen Kleidung kaum noch ertragen. Sobald er zur Wache eingesetzt wurde, bewegte er sich wenigstens, ob nun beim Aufentern in die Takelage oder beim verhassten Reinemachen. Die Arbeit wärmte, dabei kam er ins Schwitzen.

»Und wenn du dir überlegst, wie lange wir seit Rio de Janeiro unterwegs sind, dann möchte ich gern mal wissen, wie weit entfernt London ist. So weit kann ich jedenfalls nicht mehr zählen.«

»Du kannst auch nicht bis zweitausendfünfhundert zählen. Du hast irgendwem gelauscht.« Seth verzog das Gesicht. Sein Magen knurrte, das Dörrfleisch am Mittag war wieder knapp bemessen gewesen. Erst für Weihnachten plante Smutje Henry noch einmal reichlich Essen aufzutischen. Mit beiden Händen, das hatte Seth sich vorgenommen, würde er in die Schüsseln fassen, essen, bis ihm übel wurde, und sich dann in seiner Hängematte zusammenrollen. Sollte doch die Mannschaft bis tief in die Nacht feiern und sich an den versprochenen Sonderrationen Rum blöde saufen. Er würde schlafen wie lange nicht mehr, denn satt schlief man gut.

In den letzten Wochen war das Essen immer ekelhafter geworden. Das Wasser stank, doch wirklich widerlich war der Zwieback: Er lebte. Die Maden konnte man herausklopfen, wenn man jedoch nicht alle erwischte, bekam der Bissen eine Schärfe, die Seth an Senf erinnerte. Und der Schimmel, der oft schon Haare hatte und blau leuchtete, hinterließ in der gesamten Zwiebackscheibe stets einen faden Geschmack. Doch der Hunger war eine gute Sauce, die dafür sorgte, dass gegessen wurde, was auf den Tisch kam.

»Aber ich kann fast bis zweitausendfünfhundert zählen«, unterbrach Nat seine Gedanken.

Seth schaute auf. Sein Magen knurrte lauter.

»Findest du nicht auch, dass das unheimlich weit weg ist? Was ist, wenn wir den Weg nach London nicht mehr zurückfinden?«

Seth ließ einen Furz fahren. »Was willst du heute dauernd mit London?«

»Du alte Sau. Na, London ist England. Und England ist unser Zuhause. Da ist das Wetter fast so schlecht wie hier.«

Seth riss die Augen auf. »Deshalb denkst du an London? Du willst nach Hause?«

Nat drehte den Kopf beiseite und zeigte auf das Wasser hinaus. »Schau mal. Ich glaube, ich habe da gerade einen Haifisch gesehen.«

Obwohl er sich auf die Zehenspitzen stellte und lange nach einer Rückenflosse Ausschau hielt, konnte Seth keinen Hai entdecken. Als er sich zu Nat umdrehte, war der verschwunden.

Von oben betrachtet, sah Segelmacher-Johns Hinterkopf merkwürdig aus. Das Haar war verknotet und schuppig wie eh und je, aber oben auf dem Schädel, in der Mitte, schaute auch noch die nackte Haut hervor. Rot, nein, schweinefarbene Haut, entschied Seth und spürte, wie die flinken Hände des Segelmachers seine Hosenbeine einschlugen.

Dann setzte sich Segelmacher-John wieder auf und maß Seths Hüfte, wobei er leise lachte. »Da gibt das Navy Board warme Kleidung mit. Das ist eine gute Idee. Aber jedem ist das Zeug zu kurz, vielen auch zu eng, aber dich dürres Hühnchen können wir darin dreimal einwickeln.«

So groß ist die Hose doch gar nicht, befand Seth, während er an sich herabblickte. Das liegt sicher daran, dass er nicht gut sehen kann. Wie soll er das mit diesen Augen auch beurteilen können? Er richtete sich auf, reckte den Hals in die Höhe und schob den Bauch hervor, aber Segelmacher-John hatte sich schon wieder seiner Bank zugewandt.

»Wo hast du denn deinen Bruder gelassen?«, fragte er. »Dem könnte ich dann auch gleich die Kleidung kürzen. Wir brauchen jeden Fetzen, um bei den langen Kerlen die Hosen und die Jacken zu verlängern.«

»Weiß nich, wo der ist.«

»Nun schlüpf mal aus der Hose, damit fangen wir an. Die Jacke können wir später machen.«

Kaum, dass Seth in seiner langen Unterhose dastand, war er dankbar, dass man Segelmacher-Johns Bank inzwischen unter Deck getragen hatte. Hier war zwar das Licht schlecht, doch das bemerkte der Segelmacher nicht, die Wärme spürte er sehr wohl. Und seitdem sprudelten auch wieder die Geschichten aus ihm heraus.